Fragen und Antworten von Gerlinde Lill
»Sagen Sie mir doch bitte mal in drei Sätzen, was Offene Arbeit ist«, werde ich gebeten.
Ich stutze, hebe an und merke: Das ist schwer, selbst für so eine alte Häsin im offenen Gelände, wie ich es bin. Zu groß ist die Vielfalt der Arbeitsweisen, zu sehr ist alles in Bewegung. Erst recht widerspricht es meiner Überzeugung, Prozesse auf eine kurze Formel zu bringen, die festschreibt: So ist es. Oder gar: So ist es richtig. Und dennoch: Es muss doch möglich sein, des Pudels Kern zu fassen.
Offene Arbeit boomt. Kaum jemals zuvor wurde ich so oft angefragt, Öffnungsprozesse in Kitas anzustoßen. Kaum jemals zuvor erfuhr ich so viel Widerstand und Zweifel. Beides hängt zusammen.
Öffnung beginnt im Kopf, beim Nachdenken über gewohnte Arbeitsweisen und ihre Wirkungen, über Veränderungsbedarf und Alternativen. Offene Arbeit ist kein Konzept, das man »implementieren« kann, sondern ein Prozess aus Praxisreflexion und Praxiserprobung. Auf diesen Prozess wollen sich Praktikerinnen einlassen, weil er Kindern und Erwachsenen gut tut.
Offene Arbeit ist eine Basisbewegung, ein Prozess, der aus der Praxis heraus entwickelt wurde und weiter verändert wird. Davon lebt ihre Qualität. Doch in letzter Zeit kommen Öffnungsbestrebungen seltener von der Basis, dafür umso häufiger von Trägern, also von Vorgesetzten. Nicht immer ist klar, was damit bezweckt und unter Offener Arbeit verstanden wird. Die Folge: Wenn Offene Arbeit »verlangt« wird, machen viele Kolleginnen dicht.
Wir vom NOA Berlin1 werden gebeten, Erzieherinnen und Kitateams von Offener Arbeit zu überzeugen und »Haltungsänderungen« herbeizuführen. Aber es ist nicht nur unmöglich, sondern auch anmaßend, Haltungen ändern zu wollen. Ich bin sicher: Beides kann weder in Vorträgen oder Fortbildungen noch mittels Büchern und Beiträgen gelingen. Einstellungen und Überzeugungen wachsen im (Berufs-)Leben, sind Resultate von Erfahrungen, von persönlicher Verarbeitung. Sie verändern sich nicht, weil plötzlich etwas anderes gilt, erwartet oder erzählt wird. Die Sicht auf Kinder, auf die Berufsrolle, auf Arbeitsweisen kann sich ebenso nur im Ausprobieren, im Erleben und durch neue Erfahrungen wandeln.
Was wir tun können: Kolleginnen ermutigen, sich auf diese neuen Erfahrungen einzulassen und sie gemeinsam zu reflektieren.
Wer Neues erproben will, braucht Mut. Unklarheit und Druck erschweren den Weg ins Offene, denn sie verstärken Unsicherheit und Angst. Folglich können zwei Faktoren dazu beitragen, sich auf unbekannte Wege und neue Erfahrungen einzulassen: Klarheit und Gelassenheit. Zu beidem möchte ich beitragen – auch mit der Serie, die in diesem Heft beginnt.
Drei Fragen hinter der offenen Tür
Die Fragen zur Offenen Arbeit, die mir bei vielen Veranstaltungen gestellt wurden, ähneln einander. Ich habe sie gebündelt und versuche, sie kurz und möglichst klar zu beantworten – natürlich ohne den Anspruch, allgemeingültige Wahrheiten zu verbreiten. Vielmehr handelt es sich um Positionen, die wir im NOA Berlin entwickelten, in zehn Jahren der Auseinandersetzung mit dem Kern und der Vielfalt offener Arbeitsweisen.
Fragen sind der Anfang. Antworten sind hilfreich, wenn sie neue Fragen aufwerfen.
Deshalb: Überprüfen Sie meine Antworten an Ihrer Praxis und Ihren Überzeugungen. Und wenn Sie neue Fragen haben – her damit!
Sie können sicher sein: Alles, was Sie immer schon über Offene Arbeit wissen wollten, aber nie zu fragen wagten – hier hat es einen Ort. Beginnend in diesem Heft, erscheint in Betrifft KINDER regelmäßig eine Frage-Antwort-Seite zur Offenen Arbeit.
Gerlinde Lill
1 Das Netzwerk Offene Arbeit (NOA Berlin) besteht seit März 2001. Es wurde von Berliner Pädagoginnen gegründet – darunter Gerlinde Lill und Christa Möllers als Initiatorinnen – mit dem Ziel, Erfahrungen mit offenen Arbeitsweisen gemeinsam zu reflektieren, das Konzept weiterzuentwickeln und in der Öffentlichkeit dafür einzutreten. Mittlerweile gehören 28 Kolleginnen dem Netzwerk an, die 24 Berliner und Brandenburger Kitas unterschiedlicher Trägerschaft vertreten.
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Teil 1: Sichtbare und unsichtbare Seiten
Was ist Offene Arbeit?
Offene Arbeit ist mehr als ein pädagogisches Konzept und erst recht mehr als ein verändertes Raumkonzept. Es handelt sich um eine Grundeinstellung zum Zusammenleben – speziell in der Arbeit mit Kindern.
Offene Arbeit bedeutet vor allem: ins Offene denken, anderes als das Gewohnte für möglich halten, offen für neue Blickwinkel und Perspektiven sein, für Umdenken und Umhandeln.
Umstrukturierungen – Raum, Zeit, Zuordnungen, Planung, Organisation und weitere Bereiche betreffend – sind Folgen veränderter Ziele und werden daran gemessen.
Im Kern geht es um eine veränderte Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Es geht darum, das Machtverhältnis zu reflektieren und neu zu justieren. Es geht darum, den Spuren der Kinder zu folgen und nicht gegen ihre Impulse, sondern mit ihnen zu arbeiten. Es geht darum, den Kindern einen Ort der Lebensfreude und des Abenteuers zu bieten, an dem sie Futter für ihre Neugier finden, Gelegenheiten bekommen, ihren Mut zu erproben, und auf Erwachsene treffen, die Zeit für sie haben. Es geht ebenso um soziale Verantwortung – als Teil persönlicher Freiheit. Freiheit als »jeder macht, was er will« ist nicht gemeint.
Offene Arbeit schließt ein, eine Lobby für Kinder zu bilden, sich einzusetzen gegen Willkür und Machtmissbrauch, für die Stärkung und Sicherung der Rechte von Kindern.
Fälschlicherweise wird Offene Arbeit in der Kindertagesstätte auf strukturelle Merkmale wie Schwerpunkträume und gruppenübergreifende Kooperation reduziert. Dabei entstandene Begriffe wie »halboffen«, »teiloffen« oder »gruppen-offen« stiften Verwirrung. Wenn es um das Aufbrechen eingefahrener Muster und die Bereitschaft zur Reflexion und Veränderung geht, sind Vorsilben wie halb- oder teil- fehl am Platze.