Beteiligung und Mitbestimmung
Während eines Besuchs in Reggio im Mai 2008 schrieb Hildegard Wies einer Kollegin, was sie erlebte, dachte und der Daheimgebliebenen mitteilen wollte. Eine Art Reisedokumentation – mit Rückblicken auf die eigene Entwicklung.
Liebe Corrina,
häufig fragen Gäste in Reggio: Wie entstehen Projekte mit diesen vielfältigen Themen? Wie kommt es, dass die Kinder so leidenschaftlich bei der Sache sind? Woran liegt es, dass wir uns so schwer damit tun, Ähnliches in unseren Kitas umzusetzen?
Das ist keine Zauberei und kein Geheimnis. Als Besucherin spürst Du in Reggio sofort die besondere Atmosphäre, die überall gegenwärtig ist. Sie ist das Resultat einer konsequent gelebten humanistischen Philosphie.
Das Bild vom Kind kann nicht isoliert gesehen werden. Das geht einfach nicht. Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, hat das Auswirkungen auf unsere Beziehungen zu allen Menschen. Jeder kann von jedem etwas lernen. So einfach hat Loris Malaguzzi das ausgedrückt.
Eine Voraussetzung für den Erfolg des Lernens in Projekten schilderte ich Dir in meinem letzten Brief: die respektvolle und achtsame Haltung der Erzieherin gegenüber den Kindern, ihre positive Resonanz und ihre Bereitschaft, den Wegen der Kinder zu folgen, ohne sie zu verbessern und ohne ihnen das wohlfeile eigene Wissen überzustülpen.
Auf unserem eigenen Weg zur ReggioPädagogik erlebten wir, wie viel Schwierigkeiten uns dieser letzte Aspekt bereitete. Das liegt daran, dass es so schön leicht ist, eine Besserwisserin zu sein. Schließlich tragen wir die traditionellen Muster des Lernens durch Belehren in uns. Manchmal sind sie stärker als unser Wunsch und das Bemühen, das neue Bild der Erzieherin in unserer Arbeit mit den Kindern umzusetzen. Das wird wohl für jede von uns eine lebenslange Aufgabe bleiben. Dass die Mühe nicht vergebens ist, sondern bald köstliche Früchte trägt, sehen wir an den Kindern: Sie tragen den Kopf erhoben und sind bereit, Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen. Sie trauen sich!
Ein anderer, mindestens ebenso wichtiger Punkt sind Teilhabe und Mitbestimmung der Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen. Wenn sie demokratische Formen des Lebens und Lernens von Anfang an erleben, entwickeln sie eine starke Affinität zu ihren Themen.
In Reggio haben wir gesehen, dass bereits Dreijährige mit ihren Erzieherinnen auf dem Boden vor der Projekt-Dokumentation saßen, die – nicht von ungefähr – im Gruppenraum genau über der Fußleiste angebracht war. Sie sprachen miteinander über die abgebildeten Ereignisse, erinnerten sich mit Hilfe der Erzieherinnen an ihre Gedanken und Vorstellungen.
Letztendlich bestehen die Lernwege der Kinder aus lauter einzelnen erlebten Geschichten, die – aneinandergereiht – einen Bildungsroman ergeben. Darin hat jedes Kind seine eigene Geschichte, seine eigenen Fragen und Meinungen.
Beim Beobachten dieser Szene wurde uns das dialogische Prinzip der Reggio-Pädagogik überzeugend vor Augen geführt. Dr. Martini erläuterte uns die Bedeutung der Wiederholungen von Wahrnehmung, Reflexion, Aktion und Kommunikation, die einander abwechseln. Obwohl – oder vielleicht: weil – wir in unserer Kita seit vielen Jahren Projektarbeit machen, konnten wir unsere eigenen Erkenntnisse durch Dr. Martinis Ausführungen vertiefen. Zum Beispiel: War Dir bewußt, dass Lernen kein linearer Prozess ist? Wusstest Du, dass Zurückgehen kein Versagen, sondern Teil des Prozesses ist?
Die Kinder wollen es immer genau wissen. Unermüdlich wiederholen sie Vorgänge und probieren aus, bis sie ganz sicher sind. Voranschreiten und Zurückgehen, Ausprobieren und Wiederholen sind wie Schritte in einem Tanz, den die Kinder immer wieder neu erfinden. Wir Erzieherinnen gehören dazu, wir ermöglichen diese Art des lustvollen Lernens, wenn wir auf Belehrung verzichten und dem Faden der Erinnerung folgen.
Staunend – denn wir sahen unsere eigenen Erfahrungen plötzlich in neuen Zusammenhängen – konnten wir die Aussagen Dr. Martinis bestätigen. Uns war nicht klar, wie wichtig diese Formen des Lernens für die Erkenntnisprozesse der Kinder sind.
Von Dr. Martini erfuhren wir, dass sich die Pädagoginnen in Reggio bewusst darum bemühen, Zuhören in eine aktive Tätigkeit umzuwandeln. Stellen sie »weckende Fragen«, verführen sie die Kinder zum Sprechen und lernen selbst, immer besser zuzuhören. Außerdem: Wenn ich jemandem zuhöre, zeige ich ihm, dass er mir wichtig ist. Auf dieser Basis bahnen sich Veränderungen an, weil der Dialog Beziehungen wachsen lässt und Sicherheit schenkt.
Zur Beobachtung gehört nun mal aufmerksames Zuhören. Dadurch gewinnen wir die Chance, uns den Denkweisen der Kinder anzunähern. Und Zuhören fördert Mitteilungsfreudigkeit. Die Fähigkeit der Kinder zur Reflexion entwickelt sich und wird bewusst gestärkt. Auf diese Weise entstehen »Landkarten des Denkens«, und die Erzieherinnen kommen dem Lernen der Kinder auf die Spur. Sie merken, dass sich im Denken der Kinder etwas verändert. Das ist der Grund, warum die Dialoge der Kinder in Reggio oft wortwörtlich mitgeschrieben werden und ein wichtiger Bestandteil der Dokumentationen sind.
Wenn die Kinder unserer Kita nicht mehr weiter wußten oder ein Problem sahen, das sie nicht allein lösen konnten, verlangten sie eine Sondersitzung des Kinderparlaments. Übrigens konnten sie sehr wohl zwischen einem Konflikt, der persönlicher Natur war, und einem Problem, das alle anging, unterscheiden, und zwar schon vom dritten Lebensjahr an. Die kommunikativen Fähigkeiten, die unsere Kinder durch die täglichen Sitzungen des Kinderparlaments entwickelten, waren für die Arbeit in Projekten ein Geschenk.
Im Verlauf eines Projekts gibt es ja immer wieder Schnittstellen, an denen neue Fragen auftauchen und sich neue Themenfelder öffnen. Dann muss man sich einigen oder einen Kompromiss für die weitere Vorgehensweise finden. Entscheidungen werden meist auf der Basis eines gemeinsamen Aushandlungsprozesses möglich.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/09 lesen.