Die Bedeutung des freies Spiels für die Entwicklung des Kindes
Jedes Kind, das wach und satt ist, spürt den Impuls, seine Umgebung wahrzunehmen, sich darauf zu zu bewegen und sie mit seinen Mitteln zu erforschen. Werden Erzieherinnen nun arbeitslos, weil die Kinder selbstständig spielen, statt didaktisch angeleitet zu werden? Elisabeth C. Gründler sagt Nein und erläutert, warum.
»Auto« ist oft das zweite oder dritte Wort, das Kinder sprechen lernen – nach »Mama« und »Papa«. Autos bewegen sich, Kinder werden von ihren Eltern darin transportiert, Autos sind allgegenwärtig und für die Erwachsenen von großer Bedeutung. Das spiegelt dieser vordere Platz auf der Hitliste der ersten Wörter wieder.
»Auto« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »selbst«. »Automobil« – also: »von selbst bewegt« – nannten Ende des 19. Jahrhunderts staunende Zeitgenossen die ersten motorisierten Kutschen, die sich ohne Zugtier, also scheinbar »von selbst« fortbewegten. Von selbst bewegt sich auch jedes Kind, vom ersten Augenblick seines Lebens an, denn es gibt kein Leben ohne Bewegung. Und es spielt keine Rolle, ob die befruchtete Eizelle, die anfängt, sich zu teilen, oder der Moment, in dem ein Säugling seinen ersten Atemzug tut, als erster Augenblick des Lebens gesehen wird. Als Autopoiese1 bezeichnete Humberto Maturana die Fähigkeit jedes lebenden Organismus, und sei es ein Einzeller, sich durch eigene Aktivität selbst hervorzubringen, aufzubauen und zu organisieren. Was der chilenische Biologe auf Grund langjähriger Laborforschung an Froschaugen entdeckte, hatte Emmi Pikler Jahrzehnte früher durch ihre langjährige Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern erkannt: Jedes Kind, das wach und satt ist – und zwar satt sowohl im körperlichen als auch im emotionalen Sinne, weil es sich in einer sicheren Beziehung gehalten weiß –, spürt den Impuls, seine Umgebung wahrzunehmen, sich darauf zu zu bewegen und sie mit seinen Mitteln zu erforschen.
Nimmt man als diese Erkenntnis ernst, dann sind die Konsequenzen radikal. Emmi Pikler lehnte jede Stimulation und Förderung der ihr anvertrauten Säuglinge und Kleinkinder ab. Stattdessen setzte die ungarische Kinderärztin auf das freie Spiel. Neben der achtsamen, zugewandten Pflege und der eigenständigen Bewegungsentwicklung war das freie Spiel die dritte Grundlage von Emmi Piklers Arbeit.
Werden Erzieherinnen nun arbeitslos, weil die Kinder selbstständig spielen, statt didaktisch angeleitet zu werden? Die Antwort ist ein klares Nein! Statt mit dem Kind zu spielen, bereitet die Erzieherin die Umgebung so vor, dass das Kind selbstständig aktiv werden kann. Das erfordert nicht nur profundes Wissen um die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes, sondern auch eine präzise Wahrnehmung dessen, was das einzelne Kind in seiner jeweiligen Entwicklungsetappe konkret braucht. Die Arbeit der Erzieherin wird nicht weniger; sie wird anders und anspruchsvoller. Denn die wache Präsenz der Erzieherin als Bezugsperson und als Quelle von Sicherheit für das Kind bilden die Grundlage dafür, dass es seinem Impuls, die Welt zu erforschen – also zu spielen – nachgeben kann.
Julian und die Papprollen
Oftmals ist es weniger das bunte, didaktisch ausgefeilte Spielzeug als vielmehr ein Alltagsgegenstand, den auch die Erwachsenen nutzen, der die Aufmerksamkeit des Kleinkinds über längere Zeit fesselt. Zum Beispiel Julian. Der zweieinhalbjährige Junge experimentiert mit zwei Papprollen. Einen großen Pappring balanciert er auf einer langen, dünnen Rolle, die er mit seiner rechten Hand gut umgreifen kann. Es gelingt Julian, den Pappring durch Bewegungen von Hand und Arm rotieren zu lassen. Das ist eine hochkomplexe Koordinationsaufgabe für Motorik und Sinne, die Julian sich selbst gestellt hat. In seinem Gesicht spiegelt sich wache Aufmerksamkeit. Seine linke Hand hält er auf gleicher Höhe, bereit, einzugreifen, falls das Experiment nicht den gewünschten Verlauf nimmt. Doch Augenblicke später ist klar, dass Julian erfolgreich ist: Der Pappring dreht sich wie beabsichtigt um die Achse. Julians Gesichtsausdruck zeigt nun entspannte Freude und Zufriedenheit. Die linke Hand hat er sinken lassen. Er steht jetzt frei und aufrecht, mit seinem ganzen Körper drückt er aus: »Ich kann es!«
Dieses Gefühl von Gelingen und Erfolg ist für seine weitere Lernbiografie von großer Bedeutung. Der Zweieinhalbjährige baut in diesem Spiel nicht nur seine motorische und seine Sinnesintelligenz auf, sondern auch sein Selbstbewusstsein und seine Selbstkompetenz. Das Erlebnis, ein selbst gesetztes Ziel aus eigener Kraft zu erreichen, wird Teil seiner emotionalen Intelligenz. Dabei ist es unerheblich, ob Julian dieses Spiel bei einem älteren Kind beobachtet hat oder ob er von allein auf die Idee gekommen ist. Auch die Zahl seiner Fehlversuche ist ohne Bedeutung. Entscheidend ist, dass Julian nicht entmutigt wurde und dass er selbst »den Dreh« herausgefunden hat...
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/08 lesen.