Eliteförderung für die Kinder der Armen ist Prof. Jürgen Zimmers Thema Nummer 1. Im Jahre 2003 gründete er in Chiang Mai/Thailand mit Thaneen »Joy« Worrawittayakun die School for Live, aus der mittlerweile eine national wie international anerkannte Einrichtung geworden ist, die gegenwärtig 140 Kinder besuchen. Im Jahr 2005, kurz nach dem Tsunami, kam – gefördert vom Bremer Eigner der Beluga Shipping GmbH, Niels Stolberg, im Süden Thailands die Beluga School for Life hinzu. Sie hat 130 Kinder, darunter viele Tsunami-Überlebende, aufgenommen. Mit »Betrifft KINDER« sprach Jürgen Zimmer über die Vorgeschichte seines Engagements, berichtete über die School for Life und plädierte für eine Pädagogik, die sich den Lebenswirklichkeiten stellt.
Die Vorgeschichte
Mein Großvater Wolfgang Paeckelmann gründete in der Weimarer Republik die Studienstiftung des Deutschen Volkes. Dazu bewog ihn folgendes Erlebnis: Als junger Oberstudiendirektor hatte er mit Abiturienten, die zu arm waren, um studieren zu können, im Bergwerk unter Tage gearbeitet, um Geld für das Studium zu verdienen. Alle wurden verschüttet und schickten sich ans Sterben. Meinen Großvater baten sie, das Vaterunser zu beten. Weil er nicht gläubig war, tat er das nicht, sondern ein Hauer sprach das Gebet. Kurz darauf ertönten die ersten Klopfzeichen der Rettungsmannschaft.
Da ging meinem Großvater einiges durch den Kopf. Er sagte sich: »Wenn ich hier wirklich rauskomme, dann werde ich etwas tun, um die Armut zu bekämpfen.«
Mit dem damaligen preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, der schwedischen Philanthropin Elsa Brandström und aufgeklärten Industrievertretern hob er die Studienstiftung des Deutschen Volkes aus der Taufe – ein Begabtenförderwerk, bis heute die wichtigste Förderungsinstitution Deutschlands. Damals suchte er nach jungen Leuten, die nicht mit scharf gezogenem Scheitel herumlaufen, sondern interessante, fantasiereiche Persönlichkeiten sind, die anders als andere Leute denken und von denen man dermaleinst besondere Beiträge für die Gemeinschaft erhoffen darf.
Mein Großvater wurde der erste Leiter der Studienstiftung. Während der Nazizeit wurde die Stiftung gestoppt, aber noch viele Jahre behielt er jüdische Kinder an seinen Schulen. Die Nazis wagten nicht, sie ihm wegzunehmen. Nach dem Krieg widmete er sich sofort wieder der Gründung und Leitung von Reformschulen.
Auch ich weiß, was Armut ist. Mit meiner Familie lebte ich nach dem Krieg in einem Zimmer von 15 Quadratmetern. Wir hatten kein fließendes Wasser, keine Heizung, keinen Strom und keine Toilette im Haus. Doch Stipendien ermöglichten mir, Eliteschulen zu besuchen. In Salem legte ich mein Abitur ab. Während meines Berufslebens war ich in den Vorständen von International Schools und führenden deutschen Internaten tätig. Ich kenne also beide Seiten.
Keine langweilige Pädagogik!
Es ist nicht schwer, gute Erziehung und Bildung für reiche Kinder herbeizuzaubern, wenn man Geld hat. Das für arme Kinder zu tun ist eine Herausforderung. Besonders, wenn man kein Geld oder nur ganz wenig hat. Ich glaube aber an die Eliteerziehung armer Kinder, weil ich in Lateinamerika und Asien immer wieder auf Kinder traf, die eine unglaubliche Fähigkeit an den Tag legen, Risiken auf sich zu nehmen. Sie wachen am Morgen auf und wissen nicht, wie sie den Abend erleben, weil es niemanden gibt, der sich um sie kümmert und sie durchfüttert. Es sind Straßenkinder, die ihre eigenen Berufszweige entwickeln, unternehmerisch tätig sind, viel Brutalität erleben und selbst auch hart zuschlagen können. Aber sie besitzen etwas, das später in der Forschung mit Resilienz bezeichnet wurde. Sie besitzen Widerstandkraft, trotz widrigster Lebensumstände oder gerade deswegen – wie Huckleberry Finn und die rote Zora.
Wenn man diese Kinder als Huckleberry Finns oder rote Zoras versteht und darüber nachdenkt, wie man sie von ganz unten oder ganz hinten nach ganz vorn bringen kann, dann gibt es einiges zu bedenken. Zum Beispiel: bloß keine langweilige Pädagogik! Auf die Straßen- und Lebenserfahrungen von Kindern, die bereits als Unternehmer unterwegs sind, mit langweiliger Pädagogik zu antworten, das ist tödlich. Darauf verweist auch die Ausfallquote an brasilianischen Schulen. Wer in den 1980er Jahren in Favelas arbeitete, weiß: 80 Prozent der Kinder waren nach zwei Schuljahren wieder draußen. Was war passiert? Die Kinder kamen aus den Slums, hatten alle möglichen Ideen im Kopf, was Strom ist, aber keine physikalischen Theorien – und dann wurden sie von einem Lehrer unterrichtet, der an seinem Lehrplan klebte und von ihrer Lebenswirklichkeit keine Ahnung hatte. Sie verstanden ihn nicht, hörten nicht mehr zu, mussten die erste Klasse wiederholen, die zweite auch. Das langte. Sie gingen wieder auf die Straße.
Abenteuer und Gedankenreichtum
In einem Slum Säo Paulos bekam eine anthroposophische Sozialarbeiterin aus Deutschland Schwierigkeiten mit einem Jugendlichen, der zu den Gangs gehörte und auf Raubzug ging. Sie besorgte ihm einen Job auf einer Baustelle und erzählte mir stolz, dass er sich der zivilisierten Gesellschaft nun wieder nähere. Nach drei Wochen fand ich ihn an einer Straßenecke und fragte: »Was ist los?« Er berichtete, dass er die ganz Zeit Schubkarren voller Zement schieben musste. Das war so stur, dass er es nicht mehr aushielt. »Was willst du denn stattdessen tun?« wollte ich wissen. Er: »Ich will Großwildjäger in Afrika werden.« In dieser Antwort steckt ein wichtiger Hinweis: das Abenteuer.
Von der palästinensischen Universität in Jerusalem wurde ich gefragt, ob ich mit Jugendlichen arbeiten würde, die sich weigerten, sich nach der Intifada wieder auf die Schulbank zu setzen. Man musste irgendwas mit ihnen tun…
Ich weiß nicht mehr, weshalb aus der Anfrage kein Auftrag wurde. Aber ich weiß: Man kann das abenteuerliche, von Traumatisierungen begleitende Leben dieser Jugendlichen nicht mit Langeweile beantworten.
Da fällt mir wieder die Studienstiftung ein: Sie hatte nach dem Krieg eine Phase, in der sie nur noch glattgebügelte Einser-Kandidaten zuließ. Das fand ich verhängnisvoll. Wenn ich mich an die Philosophie meines Großvaters erinnere… Die Gespräche, die die Vertrauensdozenten früher mit den Kandidaten führten – Pringsheim, ein alter Rechtsgelehrter in Freiburg sprach mit ihnen über chinesische Musik, obwohl weder er noch sie wirklich etwas davon verstanden. Hellmut Becker, der Gründer des Max-Planck-Instituts, konfrontierte einen Kandidaten mit folgender Geschichte: »Du sitzt in einem kleinen Boot, das Ruder ist weg, der Ozean ist unendlich, und du hast fünf Bücher dabei. Welche sind das denn?« Über solche Sachen redeten sie, über die Todesstrafe, über Willensfreiheit, auf jeden Fall aber über etwas, bei dem man spüren kann, was der Mensch denkt und empfindet. Also keine Auswahlverfahren a la Assessment-Center.
www.school-for-Life.org
Webseite mit ausführlichen Informationen über die School for Life, ihre Geschichte und Gegenwart.
www.beluga-schoolforLife.de
Das Hilfsprojekt für in Not geratene Kinder in Thailand stellt sich vor.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/08 lesen.