Mit Kindern die eigene Stadt ko-konstruieren
Wie Kinder in hundert Sprachen ihre Stadt erforschen ist Gegenstand einer Veröffentlichung von Reggio Children, die im Verlag das netz 2009 erscheinen wird. Mit Bildern, Ideen, Theorien von Kindern unter sechs Jahren und Beiträgen, u.a. von Carla Rinaldi, Jerome Bruner, Vania Vecchi, Tulio Zini. Wir dokumentieren Ausschnitte. Im Folgenden berichten Mara Davoli, Atelierista und Gino Ferri, Lehrer im Kindergarten »Pablo-Neruda« über das Projekt, die Gründe und Entscheidungen.
Es war eine verlockende Idee, Kinder zu bitten, Interpreten und Erzähler ihrer Stadt zu sein, indem wir ihnen vorschlugen, einen Stadtführer durch Reggio Emilia zu gestalten. Zugleich war das die natürliche Folge eines Projekts, in dem wir die Ideen, Hypothesen und Theorien der Kinder über die Stadt untersuchten. Das war kein einfaches Unternehmen. Die Erfahrung der Kinder mit der Stadt wurzelt in einem komplexen Netz von Bezügen, die eng miteinander verbunden sind und in dem die persönlichen Beziehungen und Erfahrungen dem Verständnis, den Geschichten und den Schöpfungen, die von einer starken autobiografischen Konnotation durchdrungen sind, Form geben.
In der ersten Untersuchung wurden die Kinder gebeten, über ihre Bilder von Städten im Allgemeinen nachzudenken und mögliche Definitionen, Ursprünge, Formen und Grenzen zu diskutieren. Dabei wurde auch über die eigene Stadt gesprochen, obwohl sie irgendwie verschwommen im Hintergrund zu bleiben schien. Als wir das Zentrum des »Stadtführer«-Projekts erreichten, veränderte sich beides: die Sicht der Kinder auf Reggio und die Geschichten, die sie erzählten. Als die Kinder die Aufgabe von Interpreten der Stadt übernahmen und dadurch sensibel für die Gedanken anderer Menschen, für ihre möglichen Wünsche und Erwartungen wurden, veränderte sich ihr Standpunkt: Sie schlüpften jetzt in die Schuhe anderer Leute. Als sie sich an die Seite imaginärer Besucher stellten, nahm das Porträt der Stadt nach und nach Form an. Ein dichtes Gewebe aus sich kreuzenden Geschichten und Wegen entstand, das die Subjektivität der Perspektiven und Erfahrungen des Erzählers beibehielt. Dieses Porträt ist nur schwer auf den Seiten eines Buches wiederzugeben, denn jedes Fragment einer Geschichte, aus Gesprächen mit den Kindern stammend, rief andere Geschichten hervor, die aus persönlichen Erinnerungen erwuchsen.
Die Bilder vervielfachten sich, verwoben sich ineinander, wurden neu zusammengesetzt und zeichneten verschiedene Identitäten der Stadt nach, die die Dimensionen der Zeit, des Raums und des täglichen Lebens enthielten.
Welches Bild von einem Stadtführer habt ihr? Welche Bilder ruft das Wort »Stadtführer« in Kindern hervor? Was wissen sie über Stadtführer? Womit identifizieren sie sie? Das waren die ersten Fragen, die wir uns stellten (und die wir danach den Kindern stellten), in dem Gefühl, wir könnten von hieraus beginnen, einige mögliche und hypothetische Grenzen der Untersuchung zu umreißen. Von hieraus könnten wir die erste Arbeitshypothese formulieren, die uns erlauben würde, bekannte Wege zu erkunden und uns auf neues, unentdecktes Territorium zu wagen. Die Kinder schlugen viele Konzepte und Bilder zum Thema Stadtführer vor: »Bücher und Hefte, Karten und Straßenpläne, die dir Anleitung geben, das Telefonbuch, Postkarten, Broschüren, Videobänder...«
Manchmal wurde der Stadtführer auch als Person gesehen, die ihre Stadt gut kennt: »Es ist eine Dame aus dem Land. Wenn holländische Leute kommen, brauchst du eine holländische Dame, die hier lebt und auch die Sprache spricht.« Außerdem kann jeder ein Führer in dem Ort sein, den er kennt: »Ich war auch schon mal Stadtführer. Ich erzählte meinen Cousins, wie mein Kindergarten ist, und führte sie herum. Ich lief vor ihnen, denn der Führer kennt den Weg, den man gehen muss.«
Oder der Stadtführer als Objekt: »Es ist etwas, das du in der Hand hältst... Reisebücher erzählen dir alles über einen Ort.« »Ein Stadtführer ist dafür da, in der Stadt herumzugehen, er ist ein Buch mit einer Karte, um Reggio Emilia zu entdecken.«
Das ganze Spektrum von Meinungen und Möglichkeiten schien darauf zu verweisen, dass die Kinder Stadtführer als sinnvolle Hilfsmittel ansehen, um Wissen zu vermitteln und Neugier zu wecken, um sich zu informieren und genügend Vorschläge unterbreiten zu können, um die Türen zur persönlichen Erforschung der Stadt zu öffnen – voller Vorfreude auf die Überraschungen und Begegnungen mit dem, das anders und nicht alltäglich ist: »...denn wenn jemand aus einer anderen Stadt nach Reggio kommt, muss er wissen, wie Reggio ist!« »Ich denke, viel lieber würde ich zu einem Ort reisen, der so weit entfernt ist, dass ich gar nichts darüber weiß, so dass es dann eine Überraschung ist.«
Die Kinder leben die Metapher vom persönlichen Stadtführer, der anderen Menschen etwas über den Ort sagen kann, an dem er lebt. Dazu gehört auch eine Einladung: »Zuerst musst du dich vorstellen, du nennst deinen Vornamen und deinen Familiennamen. Du musst schreiben: Wir laden dich nach Reggio ein.« Tatsächlich, ein herzliches Willkommen, ergänzt durch eine Selbstdarstellung, scheint eines der Elemente zu sein, die die Qualität der Stadt ausmachen und Besucher motivieren können.
Ein ziemlich konstantes Anliegen, das die Reflexionen der Kinder in dieser frühen Phase der Arbeit deutlich charakterisiert, war die Frage, wie man sich an einem unbekannten Ort orientieren kann. Oft verwendeten die Kinder das Wort »Karte«. Welche Bedeutungen geben sie einer Karte? Wie konstruieren sie ihre eigenen mentalen Landkarten? Und wenn man Reggio betrachtet: Wie viele unterschiedliche Karten von Reggio kann es geben?
Für die vier und fünf Jahre alten Kinder scheint ein Stadtplan im Stadtführer absolut unentbehrlich zu sein: »Karten werden benutzt, um auf die Straße zu sehen und dann zu gehen. Sie sind der Startpunkt.« »Eine Karte ist eine Art von Straße, die dich zu den Plätzen in der Stadt führt. Sie ist wie eine Straße, der du folgen musst, und dann musst du darauf gehen.«
Die Kinder entwickelten verschiedene Arten von Stadtplänen, nutzten Worte und Bilder. Es gab allgemeine Karten der Stadt, auf denen die Straßen die wichtigsten Elemente waren, entsprechend der Idee von Verbindung und Bewegung, die sie hervorriefen: »Die Straßen sind wirklich lang, und sie sind alle miteinander verbunden; ein Stück der Straße ist immer mit dem anderen Stück verbunden.« Es gab auch Karten für »thematische« Routen wie der metaphorische Faden der Ariadne, um einen Weg durch die Stadt zu finden, die immer mehr Schichten herauszubilden schien, mit Motiven, Wünschen, Freuden und Notwendigkeiten verbunden: »Du brauchst viele Karten: eine für die Kirchen, die Plätze, die Brunnen, die Bäckereien und Konditoreien, eine Karte für Geld, eine fürs Schlafen und eine fürs Tanzen, eine, um Leute zu treffen, eine Karte von Cafés und Bars und eine von den Schulen und dann eine von dem Ganzen. Du brauchst Karten von allem, denn es ist nicht gut, nur eine zu haben, eine ist nicht genug!«
Worte allein schienen kein ausreichendes Medium zu sein: Spuren auf Papier zu hinterlassen war ein starker Wunsch der Kinder. Es war, als ob die Spur des Bleistifts, der über das Papier reist, ihnen hilft, sich zu fühlen, als würden sie sich bewegen, als ob der Stift innere Wege sichtbar machen kann. ...
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11/08 lesen.