Wie Erzieherinnen und Erzieher aus der Stuttgarter Kita Kolpingstraße im Alltag Grundlagen früher Bildung erforschen
Der Erzieheralltag in der Städtischen Tageseinrichtung für Kinder in der Kolpingstraße in Stuttgart beginnt mit der Beratung im Team. Eine Frühdienstkraft ist bei den Kindern. Die anderen zehn nehmen sich 20 Minuten Zeit, den Tag zu besprechen. Anschließend ist für einige von ihnen Vorbereitungszeit. Von den 55 Kindern in der Kita sind 35 über sechs Jahre alt und morgens normalerweise in der Schule. Drei bis vier Erzieher eines Teams nutzen den Vormittag, um mit der Kita-Leiterin ihre Beobachtungen von den Kindern auszuwerten.
Was ist das Thema des Kindes?
Andreas Baustel berichtet über eine Lernsituation von Georgia. Die Fünfjährige sortierte Perlen auf ein Bild. Der Erzieher beobachtete, wie sie mit Daumen und Zeigefingern die kleinen, farbigen Teile plazierte. »War sie neugierig und engagiert?« locken die Kollegen ihn heraus, weitere Wahrnehmungen zu schildern. »Sehr«, antwortet Andreas. »Sie war auch konzentriert. Das war an ihrer Mimik und Gestik zu erkennen.« Gemeinsam wollen die Kollegen herausfinden, was das Thema des Mädchens ist und mit welchen Handlungsschritten sie begleitet werden kann. »Sie sprach die ganze Zeit mit ihrer Freundin, auch wie das Bild aussehen soll«, ergänzt Andreas. »Sie hat Freude daran, sich in der zweiten Sprache auszudrücken und liebt es scheinbar auch, sich mit filigranen Dingen zu beschäftigen.«
Die Kollegen sammeln weiter: Beziehungen sind ihr wichtig. Die geben ihr Sicherheit. Aber es geht auch um Schönheit, Freude am Tun, ein analytisches Vorgehen, fassen sie ihre bisherigen Erkenntnisse zusammen. Der zunächst nur mit einigen Stichworten beschriebene Beobachtungsbogen des Erziehers füllt sich mit immer mehr Wortgruppen. »Das sind unsere Hypothesen über das Thema des Kindes«, fasst Sabine Pfeffer das Gespräch zusammen. »Gehst du noch einmal eine Woche auf die Suche nach den Orten, die Georgia wählt und welche Beziehungen sie in ihrem Tun eingeht?«, bittet sie den Kollegen. Die anderen werden ihn unterstützen. Denn je mehr Beobachtungen sie zusammentragen, um so genauere Hypothesen können sie entwickeln.
Auf dieser Grundlage werden sie klarer erfassen können, was dem Mädchen wirklich wichtig ist. »Diese Informationen brauchen wir, um das Individuelle Curriculum auch für dieses Kind zu schreiben«, erklärt die Kita-Leiterin weiter. Ihre Einrichtung arbeitet inzwischen drei Jahre nach dem Konzept des Berliner Instituts für angewandte Sozialisationsforschung Infans und ist gewillt, jedes Kind mit seiner Besonderheit beim Lernen zu begleiten.
»Reflektieren« heißt das Zauberwort
Früher arbeitete das Team in der Kolpingstraße mit Schubladen, erinnert sich Sabine Pfeffer. Wenn ein Kind schrie und laut war, hatten sie ihre Erklärungen und Handlungsempfehlungen parat: »Es kommt aus einer schwierigen Familie. Es braucht hier klare Regeln.« Heute gehen die Erzieherinnen und Erzieher dem nach, was das Kind zeigt; forschen, welches Bedürfnis es sich auch durch sein Schreien erfüllt und was das von ihnen verlangt. Zwischen beiden Haltungen liegen eine intensive Lernzeit mit Infans und viele Fortbildungen.
Die Mitarbeiter blieben dieselben. »Wir als Personen aber entwickelten uns und das Team!« unterstreicht die kleine, ruhige Frau bestimmt in ihrem schwäbischen Dialekt. Bevor sie sich auf etwas Neues einlassen konnten, rissen sie alte Gedankengebäude ab. Beispielsweise die Idee, ein Kind könne nur lernen, wenn sie als Erzieherinnen und Erzieher ihm ihr Wissen aufbereitet präsentieren. Dabei nahmen sich die Erwachsenen mit ihren eigenen Denken und Handeln nicht sonderlich ernst. Das ist heute anders. Das Zauberwort in der Kolpingstraße heißt »Reflektieren«.
Früher berieten sie in ihrer Teamsitzung, wie der Osterhasenkorb aussehen müsse, spitzt die Chefin zu. Heute hingegen würden sie sich Feed back zu ihrem Tun geben und sich auch vor Kritik nicht scheuen, etwa der: »Ich habe erlebt, wie du ein Kind arg angeschrieen hast. Ich möchte wissen, welche Haltung du dazu hast und ich sage dir meine dazu.« Auf dieser Grundlage arbeiten und lernen die Frauen und Männer miteinander.
Was heißt »Selbstständigkeit« für dich?
Dabei forderte die Beschäftigung mit dem Infans-Konzept sie heraus, sich zunächst über ihre Erziehungsziele zu verständigen. »Das war ungeheuer schwer!« gesteht Sabine Pfeffer ein. Nicht nur das Kind zu sehen, sondern sich die Ziele auf der Erwachsenenebene anzuschauen: »Wie wünschen wir uns das Verhalten dieses Menschen, wenn er erwachsen ist? Welche Qualtäten und Kompetenzen sind uns in der Begegnung mit einem anderen wichtig?« Die Ergebnisse aus diesen Überlegungen finden sich heute in den gemeinsamen Entwicklungszielen der Kita und passen zum Bildungsplan des Landes. Von Kreativität, Sprache, Körper, Bewegung, Gesundheit ist dabei die Rede, ebenso wie von Musik, Medien und Naturwissenschaften, Selbstbewusstsein, Sozialkompetenz und Selbständigkeit.
Die Begriffe festzuhalten, genügte nicht. »Was meinst du mit Selbstständigkeit?«, diskutierten die Kollegen miteinander. Für Sabine Pfeffer ist es ein hoher Wert, dass auch Kinder ihre eigene Meinung vertreten und danach handeln können. »Dass die Kinder ihre Schuhe alleine zubinden können«, definierte eine Kollegin den gleichen Begriff. Hier ging es nicht um richtig und falsch, sondern zu erkennen, auf welcher Grundlage jede von ihnen handelt und sich anschließend zu verständigen, was sie als Team zu tragen bereit sind.
Eine weitere Kollegin formulierte: »Mir ist die religiöse Erziehung der Kinder in der Kita wichtig. Ich akzeptiere, dass es für dich anders ist. Bist du einverstanden, dass ich mit den Kindern über meine Gottesbilder spreche und wir auch entsprechende Bücher anschaffen?« Einig war sich das Team darin, dass sie die Mitwirkung der Kinder an allen sie betreffenden Angelegenheiten stärken wollen. Doch welche Bedingungen brauchen sie als Erwachsene, um ihre Position zu vertreten und was können sie in ihrer Kita tun, um diese zu schaffen, überlegten sie weiter. Vom Ernstnehmen war ebenso die Rede wie von Möglichkeiten und der Ermunterung zum Reden. Das übertrugen sie auf die Kinder.
Heute gibt es in der Kita die tägliche Kinderversammlung in den verschiedenen Altersgruppen, die auch Kinder selbst leiten und protokollieren, sowie das Abschlussblitzlicht zur Auswertung des Tages, ehe alle nach Hause gehen. Ziel für Ziel brachen die Erzieherinnen und Erzieher für sich in Handlungen um. Ihr Leitsatz über allem lautet: »Die Kinder sollen in unserer Einrichtung eine positive Einstellung zum Leben erfahren. Sie sollen neue Situationen von sich aus bewältigen, Freude und Sinn am Leben empfinden und Freude an Kleinigkeiten des Lebens entdecken.«
Ausguck, Traumland, Werkstätten
Die gesamte Kita atmet diesen Geist. Beim Gang durch die zehn verwinkelten Räume der Kita in einem alten Gemeindehaus fallen zuerst überall die Spiegel auf: Ob die steile Treppe hinunter, im Rollenspielraum, am Malplatz oder in der Werkstatt, überall begegnen die Kinder sich selbst und sehen: »Ich bin!« Der Raum zum Bauen und Konstruieren ist in ein Lager und einen Bauplatz unterteilt. Auf der rechten Seite das Material. Links Fotos, Modelle, Kinderbausteine, ein Flaschenzug. Zu Dachluken an schrägen Wänden führen mehrmals stabile Leitern hinauf und laden als Ausguck, Forscher- oder Leseplätze ein. In einer Ecke dreht sich ein Plattenspieler. Was geschieht, wenn ich eine Schraube, Legosteine oder ein Auto darauf drehe? Im Raum für die Naturwissenschaften wurde eine Schlange präpariert, die die Kinder fanden, hier kann man Kristalle anschauen, die sie züchteten. In der Schreibwerkstatt nebenan haben auch bereits die Kleinen ihr Heft, in dem sie – oft angeregt durch die Großen – Zeichen von einem Experiment oder einen Spaziergang notieren. Im Traumland, in dem die Kleinen mittags schlafen können, gestalteten die Kinder ihren individuellen Platz mit Familienfotos. Ruhe finden sie dort, indem sie sich gegenseitig massieren, Memory spielen oder einer Geschichte lauschen.
Jeder der Lernbereiche wird für ein halbes Jahr von einer Kollegin oder einem Kollegen betreut. Nese Yesilok ist momentan für die Werkstatt im Keller zuständig. Hier können die Kinder mit Holz arbeiten, mit Wasser matschen, sich schminken, malen, nähen und tonen. Eigentlich wäre jetzt der Wechsel angesagt. Doch die in der Türkei geborene 35-Jährige will erst noch den Veränderungsprozess für sich zum Abschluss bringen. Im Team besprechen sie aller sechs Monate gemeinsam: Wie sehen sie einen Raum? Wie reagieren die Kinder auf die Materialien dort? Welche Lernprozesse konnten wir wahrnehmen? Wodurch? Als Nese den Raum übernahm, bemühte sie sich vor allem, ihn noch deutlicher für sich sprechen zu lassen. Für die Kinder sollte transparenter werden, wie sie die Materialien nutzen können.
Das ist ein Prozess, den alle Räume in den zurückliegenden Jahren erlebten: Vom kreativen Chaos hin zur Einladung als Lernbereich. Für die Werkstatt hieß das: Weniger ist mehr. Klar sind dort einige wenige Plätze einmal zum Malen, zum anderen zum Zeichnen bzw. zur Arbeit mit Ton eingerichtet. Stifte, Blätter, Farben, Ton griffbereit, damit die Kinder ihren eigenen Impulsen folgen können. »Ich selbst bin nur zum Unterstützen da, frage die Kinder auch: ›Was möchtest du, dass ich tue?‹« Wenn die Kinder den Raum verlassen, schaut sie umher, ob ihr Anspruch erfüllt ist. Auch Nese selbst konnte sich in gewisser Weise als Künstlerin entfalten. Jetzt aber will sich die Erzieherin etwas Neues zumuten. »Zu Physik und dem naturwissenschaftlichen Bereich hatte ich in der Schule nie einen Bezug und schob dies weg. Da werde ich wohl über eine weitere Grenze hinauswachsen dürfen.« Sie kann sich sicher sein, das Team wird sie unterstützen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/08 lesen.