Teil 1: Ein Treibhaus der Zukunft. Mitten im Ruhrgebiet
In der »Lernwerkstatt Natur« sind Kinder (und Erzieherinnen) Forscher. Wissenschaftler beobachten sie dabei. Gerd E. Schäfer, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Köln und Projektleiter der »Lernwerkstatt Natur« stellt einen Ausschnitt der Erfahrungen, Theorien und Ideen vor, die im Frühjahr 2008 beim Verlag das netz erscheinen.
Die Naturwissenschaften beschreiben Erscheinungen und Vorgänge in der Natur und begründen ihre Gesetzmäßigkeiten. Dazu bilden sie ein eigenes Symbolsystem. Allgemeine Grundlage aller Naturwissenschaften ist das Symbolsystem der Mathematik, aber es gibt weitere, fachspezifische Symbolsysteme.
In unserem Bildungssystem werden die Fächer der Naturwissenschaft, je nach Bundesland, traditionell erst ab der sechsten Klasse eingeführt. Zurückzuführen ist dies auf den Einfluss Piagets. Nach ihm ist die Fähigkeit zum logischen Denken bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter erheblich eingeschränkt. Diese Annahmen waren auch lange Zeit der Grund dafür, dass das naturwissenschaftliche Interesse von Kindern diesen Alters wissenschaftlich nicht untersucht wurde.1
Die in unserer Studie angeführten Untersuchungen zeigen ein anderes Bild. Nach ihnen kann man davon ausgehen, dass Kinder von Anfang an ein Interesse an Phänomenen der Natur haben und sich daraus ein Bild von der Welt erzeugen, das verschiedene Wandlungen von implizit zu explizit, von Wahrnehmungen über erste Formen von Theorien zu naturwissenschaftlichem Denken durchläuft. Für die Praxis besteht jedoch die Schwierigkeit, dass es für die Thematik »Didaktik der Naturwissenschaften in der frühen Kindheit« so gut wie keine wissenschaftlich fundierten Vorarbeiten, mit Ausnahme der Arbeiten von Gisela Lück, aus neuester Zeit gibt. Tatsächlich weiß man also recht wenig darüber, wie sich frühes Verständnis für die Naturwissenschaften bei Kindern entwickelt. Auch die bisher vorliegenden Arbeiten aus der experimentellen Entwicklungspsychologie ergeben dafür nur eine unzureichende Grundlage.
Die grundsätzlichen Überlegungen dieser Studie sowie Überlegungen zur Entwicklung zum Naturwissen der Kinder legen nun nahe, physikalisches, mathematisches Wissen oder »Vorläufer-Wissen« nicht als »Eigenschaft« eines inneren Prozesses des Kindes zu erforschen. Vielmehr muss es als Produkt der Interaktion des Kindes mit einer gegebenen kulturellen Umwelt erfasst werden. Damit es als naturwissenschaftliches Wissen überhaupt entsteht, ist das Zusammenspiel des Kindes mit einer geeigneten Umwelt erforderlich. Daher wird man es im Zusammenhang mit mehr oder weniger herausfordernden Lernumwelten und in einem natürlichen Umfeld untersuchen müssen. Das unterscheidet eine pädagogische von einer entwicklungspsychologischen Fragestellung.
Das war der Ausgangspunkt für eigene Studien zum Naturwissen von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren in einem natürlichen Umfeld.2 Szenen, in denen sich Kinder engagiert ihren selbst gewählten Projektaufgaben widmen, werden fotografiert oder videografiert, nach Möglichkeit verbunden mit Sprachaufnahmen und den schriftlich niedergelegten Beobachtungen der Mitarbeiterinnen. Sie bilden die Grundlage für die nachträgliche Auswertung des Materials hinsichtlich der Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Denkprozesse, die Kinder in ihre Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Geländes einsetzen. Mit Hilfe eines offenen Beobachtungsverfahrens und eines theoretischen Modells von den Transformationen frühkindlichen Denkens werden diese Dokumentationen ausgewertet.3 Das Ziel dieses Vorgehens ist ein dreifaches:
- Zum einen sollen die vielfältigen »Denkprozesse«, die Kinder zu ihrem jeweiligen Verhalten und Handeln veranlassen, erschlossen werden.
- Zum zweiten sollen Möglichkeiten pädagogischer Interventionen gefunden werden, um die Kinder in ihren Denk- und Forschungsprozessen zu unterstützen und so anzuregen, dass ihre eigenen Handlungen und Gedanken darin aufgenommen werden.
- Zum dritten sollte daraus ein zusammenfassendes Modell der Entwicklung des Naturwissens in diesen Jahren entworfen werden, das pädagogischen und didaktischen Handlungsentscheidungen eine alltagstaugliche Grundlage bietet.
Die bisherigen Ergebnisse sollen hier in Kürze zusammengefasst werden, da sie eine aussichtsreiche Perspektive für die Grundlegung und Unterstützung von frühkindlichen Bildungsprozessen im Bereich des Naturwissens bieten.
Nach dieser Auffassung beginnt natur- »wissenschaftliches« Denken nicht, wie oft unterstellt und in den meisten Konzepten für die Bildungsarbeit im Bereich Naturwissenschaften für den Elementar- und Grundschulbereich derzeit umgesetzt wird, mit naturwissenschaftlichen Experimenten, sondern mit dem konkreten Erleben der Natur.
Die Naturwissenschaften bilden Symbolsysteme, mit denen man Phänomene der Natur denken kann. Der menschliche Geist kann im Kopf jedoch nur das symbolisch repräsentieren, was er zuvor sinnlich erfahren hat. Das bedeutet, bevor Kinder »Symbolsysteme über die Natur« nutzen können, müssen sie die Natur und ihre Phänomene selbst vielfältig wahrnehmen. Je vielseitiger und komplexer die Umgebung ist, desto differenzierter sind die sinnlichen Erfahrungen in diesem Bereich.
Wo die Kinder an die Grenzen ihrer Möglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung kommen, helfen Materialien und Werkzeuge, die Naturphänomene weiterführend zu entdecken und zu untersuchen. Sie ermöglichen weitere Perspektiven auf die Dinge und können so die Wahrnehmungen der Kinder erweitern. Vertiefen können die Kinder ihr Wissen aber nur dann, wenn sie die neu gewonnenen Eindrücke mit ihren bereits gemachten Erfahrungen verknüpfen können. Deshalb sollten die benutzten Werkzeuge ihnen von anderen Handlungen in Alltagszusammenhängen bereits bekannt sein. Es geht zunächst also nicht um Reagenzgläser, Mikroskope oder Versuchsanordnungen, sondern um Werkzeuge, wie sie in der häuslichen Werkzeugkiste und in der Küche vorhanden und damit den Kindern in ihrer Handhabung bereits vertraut sind.
Die Entwicklungspsychologie kann beschreiben wie Wahrnehmungswissen in innere Repräsentationen umgewandelt wird. Legt man die bisherigen Theoriemodelle zugrunde, so zeigt sich etwa folgendes Bild: Formen der neu entstandenen Wissensstrukturen werden in Schemata oder Skripts im Kopf des Kindes repräsentiert. Sie enthalten das konkrete Wissen über Objekte und Ereignisse sowie ihre Zusammenhänge. Daraus entwickelt das Kind intuitive Theorien. Über die Inhalte und die Veränderungen dieser intuitiven Theorien hofft man, Aufschlüsse über kognitive Veränderung zu bekommen.4
Implizites Wissen, wie es durch Alltagshandeln entsteht, wird durch Formen der Symbolisierung in explizites Wissen umgewandelt. Neben einer vielfältigen Naturumgebung brauchen Kinder also vielseitige Gelegenheiten, um ihr Wissen symbolhaft auszudrücken. Dazu gehören neben der Sprache unter anderem das Malen und Zeichnen sowie das Bauen und Gestalten. Letztere Formen ermöglichen im Umgang mit Naturmaterialien nicht nur ein Symbolisieren des Wissens, sondern auch weitergehende Erfahrungen und Einsichten mit dem Material selbst.
Wenn die eigenen Theorien als Erklärungen nicht mehr ausreichen, suchen Kinder nach neuen Erklärungen. Von daher brauchen sie ausreichende Möglichkeiten, um ihre Theorien im Bereich des Naturwissens voll ausschöpfen und so die Reichweite und Grenzen ihrer Annahmen erleben zu können. Auf der Suche nach neuen Erklärungen können die formalen Theorien der Naturwissenschaft Antworten anbieten.
Wie Kinder die Übergänge oder die Verbindung des intuitiven Wissens mit dem formalen Wissen gestalten, das ist bislang nicht hinreichend erforscht. Hierzu müssten ethnografische Forschungen auf eine breitere Basis gestellt und durch ausgewählte experimentelle Forschungen ergänzt werden. Unsere eigenen Untersuchungen reichen jedoch aus, um erste Hinweise zu geben. Sie legen einige wichtige Entwicklungselemente nahe.
Von Elementen wird gesprochen, damit nicht der Eindruck entsteht, es gäbe einen »richtigen« Verlauf. Es sieht vielmehr so aus, als könnten alle diese Elemente, wenn sie einmal entwickelt sind, nach Bedarf kombiniert werden, gemäß den Anforderungen, die sich aus einer Problemstellung ergeben.
In der Entwicklung dieser Elemente scheint jedoch eine gewisse Abfolgelogik zu liegen. Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen wird keines dieser Elemente überflüssig, sondern kann ein Leben lang bedeutungsvoll gebraucht werden. Zum anderen gibt es eine Ablauflogik der Entwicklung, die im Detail nicht streng ist, aber einem freien Zusammenspiel der Möglichkeiten entlang von Aufgabenstellungen Raum gibt, wenn sie einmal durchlaufen wurde. Genauer: Die Entwicklung der einzelnen Elemente muss in einer Qualität erfolgen, so dass die Elemente für die weitere Entwicklung tatsächlich spontan zur Verfügung stehen.
Erfahrungen über die Materialität der Welt
In den ersten Lebensjahren sammeln Kinder Erfahrungen über die Materialität der Welt. Jeder Schritt in dieser Welt belehrt sie über Erscheinungsweisen und Eigenschaften der lebenden und der nichtlebenden Materie. Sie kundschaften aus, was man damit machen kann. Dabei benutzen sie nicht nur die Werkzeuge ihres Körpers, die Bewegungen, die Sinne und die Möglichkeiten, diese Erfahrungen zu denken. Sie ergreifen auch alle erreichbaren Gegenstände und benutzen sie als Werkzeuge, mit denen sie ihre Untersuchungen erweitern können.
Ein Kind entdeckt zum Beispiel den Klang eines Kochtopfs. Es schiebt den Topf vielleicht über den Steinboden, weil das so schönen Lärm macht, rollt ihn, beklopft ihn mit den Händen – gleichzeitig befühlt es ihn und spürt seine Kälte –, nimmt einen Kochlöffel oder erkundet die Klangwirkungen des Topfs mit Steinchen, einem Korkenzieher, der Schere oder Mamas Brille.
Alle handhabbaren Gegenstände können zu Werkzeugen werden. Sie geben dabei ihre Qualitäten, Eigenschaften und Handlungsmöglichkeiten genauso preis wie der Kochtopf, dem mit ihrer Hilfe alle möglichen Klänge und Geräusche mehr oder weniger »musikalisch« entlockt werden und der dabei gleichzeitig in vielen weiteren physikalischen Eigenschaften erkennbar wird.
Solche Erfahrungen sind zunächst notwendig, damit ein Kind basales Erfahrungswissen sammeln, das es zum adäquaten Handeln in dieser Welt befähigt. Deshalb sind sie auch noch nicht in physikalische, chemische oder biologische Wissensbereiche getrennt. Vielmehr wird das Kind es in unserer Kultur lernen, diese Erfahrungen später einmal als solche einzuordnen und vertieft zu denken.
Biologie, Physik, Chemie oder auch die dazugehörige Mathematik finden sich nicht im Kopf, sondern sind kulturelle Ordnungen, die über Jahrhunderte entstanden sind und die das Kind zunehmend zu verwenden lernt, um seine Erfahrungen so zu strukturieren, dass es sie immer differenzierter denken kann.
In diesem Sinne wird man Beschreibungen von kindlichen Erfahrungen in und mit der Natur als basale, implizite Erfahrungen eines später abgrenzbaren biologischen, physikalischen und chemischen Wissens lesen müssen. Daraus ergibt sich die Frage: Wie schafft es ein Kind, dieses Naturwissen dazu zu benutzen, seine Welterfahrungen zunächst zu ordnen und später immer mehr zu erweitern?
Wenn es ein Zusammenspiel von tatsächlicher (kultureller) Umwelt und der Entwicklung eines Naturwissens gibt, dann beginnt dies spätestens mit der Geburt. Es muss Transformationen durchlaufen, die von den unmittelbaren sinnlichen Materialitätserfahrungen ausgehen und irgendwann möglicherweise in naturwissenschaftlichem Denken und Wissen enden. Von solchen Transformationen soll im Folgenden die Rede sein.
1 Vgl. Lück 2003
2 Eine anschauliche Vorstellung von der Lernwerkstatt vermitteln einige Ausschnitte des Films »Kinder« von Reinhard Kahl. Archiv der Zukunft, 2007 . Das Projekt wird gefördert von der Deutschen Telekom-Stifung.
Infos unter: http://www.telekom-stiftung.de/2-fruehe-foerderung/2-lernwerkstatt-natur/start.php
3 Da man in der frühpädagogischen Forschung vielfach mit nichtsprachlichen Denkprozessen der Kinder zu tun hat, muss sich Forschung in natürlichen Situationen auf Bild- und Videodokumentationen stützen. Dieses Forschungsverfahren, das in Alltagssituationen angewandt wird, ist ethnografisch. Es betrachtet die erforschte Situation und die beteiligten Personen wie eine fremde Kultur (Vgl. Schäfer, G. E.: Aus der Perspektive des Kindes? 1997). Im Zentrum steht dabei das am kindlichen Handeln und Denken, was unvertraut erscheint und Erwachsene zum Nachdenken zwingt. Da das Verfahren Bild- und Videomaterial einschließt, handelt es sich um ein bildethnografisches Forschungsvorgehen (Vgl. Mohn 2002)
4 Vgl. Schäfer 2007, Kap. 18
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/08 lesen.