Das Wort »Förderung« besitzt im Deutschen verschiedene Bedeutungen, die in der Pädagogik oft zu Missverständnissen führen. Die Dozentin Anna Winner erklärt, was sie unter Sprachförderung versteht, und beschreibt, was Erzieherinnen und Erzieher in Kindertageseinrichtungen tun können, damit alle Kinder ihre Sprachkompetenzen gut entwickeln können.
Im heilpädagogischen Kontext wird Förderung so verstanden: Ein Mensch mit einer seelischen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung oder mit einem Mangel an sozialen Ressourcen soll möglichst früh gefördert werden, damit aus dieser Beeinträchtigung keine Behinderung in seinem Leben resultiert. Förderung wird hier kompensatorisch verstanden. Defizite sollen ausgeglichen werden. Sprachförderung nimmt hier Kinder in den Blick, bei denen eine Beeinträchtigung diagnostiziert wurde und das Risiko besteht, dass sie in ihrer Sprachentwicklung behindert werden.
Es werden aber auch Förderpreise verliehen für Menschen mit besonderen Kompetenzen auf einem Gebiet, zum Beispiel der Kunst. Wir fördern hochbegabte Kinder und gründen Musik- oder Sport-Gymnasien, auf denen Kinder besonders gefördert werden sollen. Förderung bedeutet hier, einem Menschen zu helfen, ihn zu unterstützen, damit er seine Kompetenzen weiterentwickeln kann. Wir haben hier die Stärken, nicht die Defizite im Blick.
Schließlich verstehen wir unter Förderung das Herstellen einer anregungsreichen Umgebung, das Ermöglichen von Selbstbildungsprozessen, die Ermutigung, Schritte ins Ungewisse zu wagen.
Gemeinsam ist all diesen Förder-Begriffen, dass der einzelne Mensch von anderen Menschen unterstützt wird, damit er sich umfassend entwickeln kann.
Jeder Mensch braucht die Unterstützung seiner Gesellschaft, um seine Fähigkeiten zu entwickeln. So verstandene Sprachförderung bedeutet: Alle Kinder brauchen Förderung, damit sie ihre kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten mit Hilfe einer oder mehrerer Nationalsprachen entwickeln können. Nur in einer sprechenden (und zuhörenden) Umgebung entwickeln Kinder Sprache. Und wie gut dies gelingt, wird neben den biogenetischen und autogenen Faktoren entscheidend von der Qualität der Menschen beeinflusst, die die Kinder umgeben. Solche Sprachförderung brauchen alle Kinder, und zwar von Geburt an.
So verstehe ich Sprachförderung und möchte mich im folgenden Text auf die ersten Kindheitsjahre konzentrieren, weil in dieser Zeit die Grundlagen gelegt werden. Meine Frage lautet: Was können Erzieherinnen und Erzieher in Kindertageseinrichtungen tun, damit alle Kinder ihre Sprachkompetenzen gut entwickeln können?
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zuerst einmal deutlich machen, wie ich Sprache definiere, welche Bedeutungen ich mit Sprache verbinde.
Was Sprache für den Menschen bedeutet
In meinen Fortbildungen frage ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu Beginn meist, was sie mit dem Wort »Sprache« verbinden, und bitte sie, etwa fünf Assoziationen zu nennen.
Unabhängig von Beruf, Geschlecht und Alter der Antwortenden werden häufig folgende Begriffe genannt: Verständigung, Verstehen, Verständnis, Kommunikation, Kontakte, Kontaktaufnahme, Beziehungen, Vertrauen, Gefühle zeigen, Gefühle deutlich machen, sich ausdrücken, Austausch mit Mitmenschen, Bedürfnisse äußern.
Oft finden sich noch folgende Aussagen: Unterhaltung, Spaß haben, Geselligkeit, Witze machen, Austausch von Informationen, Mitteilung, denken, Entwicklung, reden, Laute, Worte, Sätze, Mimik, Gestik, lesen, hören, erzählen, Fremdsprachen, Urlaub.
Vereinzelt werden genannt: Ausbildung, Schule, lernen, Erfolg, Missverständnis, Sprachbarrieren, streiten, Grammatik.
Wie jeden anderen Gegenstand definieren wir auch Sprache nicht nur nach der »äußeren Gestalt«, nach der Form, dem Material, den Strukturen. Viel bedeutsamer erscheint uns im Alltag, wofür wir diesen Gegenstand brauchen können, welchen Funktionen er dient, was Sprache für den Menschen bedeutet. Um die Funktion von Sprache zu verdeutlichen, beschrieb der griechische Philosoph Platon Sprache vor cirka 2400 Jahren als ein Werkzeug (altgriechisch: organon), das dazu dient, »einander etwas mitzuteilen über die Dinge«. Diesen Werkzeugbegriff dürfen wir ruhig wörtlich nehmen, auch wenn es sich bei Sprache nicht um ein materielles, sondern um ein psychisches Werkzeug handelt. Sprache besitzt alle Eigenschaften eines Werkzeugs, und Kinder entwickeln den Umgang mit diesem Werkzeug genauso wie den mit allen anderen Werkzeugen.
Das Werkzeug Sprache
Das Werkzeug Sprache braucht der Mensch, um Verständigung »herzustellen« (Kommunikation) und um Erkenntnisse zu »gewinnen« (Kognition). Nur der Mensch besitzt dieses wunderbare Werkzeug, mit dem es ihm gelingt, individuelles Wissen mit anderen Menschen zu kommunizieren und von den Erfahrungen anderer zu profitieren. Wie jedes Werkzeug hat auch Sprache eine Form, eine Struktur, einen Mechanismus, besteht auch Sprache aus verschiedenen Materialien.
Um dieses Werkzeug mit all seinen Facetten und Möglichkeiten selbstständig nutzen zu können, braucht es viele Jahre; und im besten Fall entwickelt sich unsere Sprache ein Leben lang. Die Entwicklung einer Muttersprache dauert etwa 18 Jahre. Im Jugendalter werden unsere Sprache und unser Denken noch einmal qualitativ verändert, unsere »Hardware« im Gehirn wird in dieser Zeitspanne kräftig durchgerüttelt. Die Schule ist dabei ein wichtiger Ort, an dem die Sprachkompetenz erweitert wird.
Nicht alle Menschen werden zu Meisterinnen an diesem Instrument, können Gedichte verfassen oder Bücher schreiben. Das erwartet auch niemand. Aber selbst erwachsene und ausgereifte Muttersprachler brauchen ein Leben lang sprachliche Anregungen, um nichts zu vergessen und fit zu bleiben.
Faktoren der Sprachentwicklung
Die ersten vier Lebensjahre sind für die Sprachentwicklung von großer Bedeutung. In den ersten vier Lebensjahren erfinden Kinder die Sprache in gewissem Sinne neu. Sie entdecken die Funktionen von Sprache, sie beginnen sprachliche Strukturen nach eigenen Konzepten zu konstruieren und haben eine Strategie entwickelt, wie sie mit ihren individuellen organischen Bedingungen Sprachlaute so bilden können, dass sie auch von Erwachsenen verstanden werden, die ihnen fremd sind.
Sprachentwicklung ist ein aktiver Prozess, der durch bloße Aneignung einer Erwachsenensprache nicht erklärt werden kann. Kinder können Sprache nur entwickeln, wenn sie dafür einen sozialen und kulturellen Nährboden finden. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen Sprache als Mittel der Kommunikation und des Denkens vorleben. Vor allem drei Kompetenzen müssen Kinder an den Erwachsenen entdecken können:
- die Fähigkeit zur Empathie, Einfühlungsvermögen;
- die Fähigkeit, Symbole zu nutzen und zu verstehen;
- die Fähigkeit, Sachverhalte zu begreifen und Begriffe zu bilden.
Einfühlungsvermögen
Die Verhaltensbiologie verblüfft uns immer wieder mit Ergebnissen, wie gut Tiere denken und kommunizieren können. Was sie vom Menschen unterscheidet, das ist die fehlende Verbindung dieser beiden Fähigkeiten. Nur Menschen können individuelle Erfahrungen anderen Menschen mitteilen. Die Gans hingegen steckt andere Gänse mit ihrem aufgeregten Geschnatter zwar an, aber sie kann ihnen nicht mitteilen, was sie gesehen hat.
Nach Tomasello können wir Denken und Kommunikation verbinden, weil wir die biologische Ausstattung haben, andere Menschen als »intentionale Akteure«, als absichtsvoll Handelnde zu erkennen. Die Menschen unterstellen ihren Mitmenschen bei jeder Handlung eine Absicht – eine spezifisch menschliche Macke, könnte man sagen. »Das habe ich nicht mit Absicht gemacht« gilt schon bei Kindern als Entschuldigung und »Das hat der mit Absicht gemacht« als große Gemeinheit. Deshalb können Menschen in einer »sozialen Situation auch nicht nicht kommunizieren«, wie Paul Watzlawick betont, denn jede Interaktion wird als Botschaft interpretiert.
Um eine Absicht erkennen zu können, müssen wir die Perspektive wechseln. Wir müssen die Situation mit den Augen des anderen Menschen betrachten, seine Sichtweise einnehmen.
Nur wir Menschen verfügen über diese einzigartige biologische Fähigkeit, die Fähigkeit zur Empathie. Wir können uns in andere Individuen hineindenken, können die Gedanken anderer Menschen »lesen« und deren Absichten verstehen, auch wenn unsere Annahmen nicht immer korrekt sind.
Die Wissenschaft ist sich noch nicht ganz einig darüber, ob diese Fähigkeit von Geburt an vorhanden ist oder ob sie in den ersten acht Monaten reift. Erwiesen ist aber, dass die Art und Weise, wie Erwachsene in den ersten Monaten mit einem Säugling kommunizieren, für die Entwicklung dieser Fähigkeit besonders wichtig ist. Die Erwachsenen lehren das Kind Absichten verstehen, indem sie versuchen, die Botschaften des Kindes zu entschlüsseln, und die Äußerungen des Kindes interpretierend nachahmen.
Bei Neugeborenen sind die Sprechorgane und der Hörsinn im Normalfall voll entwickelt. Bereits mit wenigen Wochen modifizieren die Säuglinge ihr Schreien, wohlige Gurrgeräusche, hohe Laute und ganze »Sprechmelodien« kommen dazu. All dies geschieht noch unbewusst, noch kann der Säugling seine Äußerungen nicht steuern. Auch das Verhalten der Erwachsenen ist anfangs meist unbewusst. Sie sind es nämlich, die den Säugling nachahmen. Sie greifen die Laute des Kindes auf und verbinden sie mit einer sinnvollen Aussage in ihrer Sprache. Produziert das Baby zum Beispiel ein Brummen auf einer niedrigen Tonhöhe, greift die Mutter diese Äußerung auf und antwortet in gleichem Tonfall: »Ja, was musst du denn so schimpfen?« Oder: »Ja, du bist heute ein richtiger Tiger.« Auf große Tonhöhenschwankungen und Melodiebögen aus Vokalen reagiert sie vielleicht mit Sätzen wie »So gut geht es meinem Liebling heute« oder »So viel kannst du schon erzählen«.
Entscheidend ist bei diesen Gesprächen die Ähnlichkeit des Tonfalls. Dabei entdeckt das Kind, dass es mit Lauten und Geräuschen das Verhalten der Erwachsenen beeinflussen kann, dass bestimmte Laute bei den Erwachsenen ähnliche Äußerungen provozieren. Das Kind kann so seine Urheberschaft spüren, es kann Wirkungen erzielen. Es entdeckt die kommunikative Funktion von Sprache. Zunehmend wird das Kind nun auch umgekehrt versuchen, die erwachsenen Gesprächspartner zu imitieren.
In solchen Gesprächen gibt es erfolgreiche und weniger erfolgreiche Laute, denn während das Kind sechs, acht Monate lang noch alle Sprachlaute der Welt ausprobiert, können die Erwachsenen nur noch mit ihren Sprachlauten antworten. So wächst das Kind in das Lautrepertoire einer Nationalsprache hinein. Dieses Verhalten finden wir in allen Sprachen der Welt.
Es genügt nicht, Kleinkindern Laute vorzusagen, damit sie sie nachbilden können. Mit stimmlichen Äußerungen müssen kommunikative Absichten verfolgt werden. Der Säugling wächst in den ersten Monaten in eine Kommunikationskultur hinein, die ihn prägen wird. Er wird erleben, ob die Erwachsenen Bereitschaft zeigen, sich auf Verständigung einzulassen, auch wenn sie über Worte noch nicht gelingen kann. Er merkt aber: Hier gibt es jemanden, der mich verstehen will – egal, mit welchem Mittel ich mich ausdrücke.
Im Spiel zwischen Kleinkindern lässt sich beobachten, dass sie unterschiedliche Kommunikationsmittel einsetzen, auch wenn sie noch nicht über Worte verfügen. Sie blicken einander an, berühren einander, machen Gesten und begleiten all dies durch angemessene stimmliche Äußerungen. Dabei erfahren sie, dass ihre stimmlichen und mimischen Verhaltensweisen zu bestimmten Reaktionen führen, bevor sie sie bewusst und zielgerichtet einsetzen können.
Es sind also die Erwachsenen, die dem Kind vorleben, wie es gelingen kann, sich in andere hineinzuversetzen. An diesem Modell entwickelt das Kind seine Empathie und kommuniziert. Sehr anschaulich beschreiben Brodin und Hylander diesen Prozess in ihrem Buch »Wie Kinder kommunizieren«: »Bisher geschah die Interaktion als unmittelbare Reaktion auf äußere Handlungen, ohne dass das Kind die dahinter liegenden psychischen Zustände begreifen konnte. Es ahmte nach und entdeckte dabei: ›Wenn ich schreie, kommt Mama mit Essen.‹ Nun nimmt es eine neue Empfindung wahr. Ein anderer versteht, was es bedeutet, hungrig zu sein. ›Mama kommt mit Essen, weil sie selbst das Gefühl von Hunger kennt und deshalb weiß, wie ich mich fühle, wenn ich hungrig bin.‹«1
Es kommt also darauf an zu verstehen, was das Kind meint, und nicht nur zu hören, was es sagt oder eben nicht sagt.
»Es ist Essenszeit. Andreas (22 Monate) sitzt mit den anderen Kindern am Tisch. Heute hat es ihm besonders gut geschmeckt. Nachdem er aufgegessen hat, streckt er sich über den ganzen Tisch, um die Schüssel zu erreichen und sie zu sich herzuziehen. Die Erzieherin hält die Schüssel fest und sagt fragend: ›Andreas, möchtest du noch etwas?‹ Andreas schaut sie an, dann schaut er die Schüssel an und hält die Hand weiter ausgestreckt. Die Erzieherin hält die Schüssel fest und wiederholt: ›Andreas möchtest du noch etwas?‹ Ihr Blick, ihre Haltung und ihre Gestik signalisieren einem anderen Erwachsenen: ›Andreas, ich möchte, dass du mir eine sprachliche Antwort gibst. Ich möchte, dass du zumindest ja oder nein sagst.‹ Aber was versteht Andreas in dieser Situation, in der für ihn ein großer Erfolgsdruck besteht? Er möchte doch so gerne noch etwas essen. Andreas spürt, dass die Erzieherin sein Anliegen verstanden hat. Trotzdem hilft sie ihm nicht, sondern hält die Schüssel fest. Vielleicht hört Andreas: Sie will mir nichts mehr geben. Andreas sagt nichts. Er nimmt die Hand zurück und setzt sich wieder auf seinen Platz.«2
1 Brodin/Hylander 2002, S. 73
2 Winner 2007, S. 20
www.die-macht-der-sprache.de
Mit einer Reihe von Partnern initiiert das Goethe-Institut in einem Programmschwerpunkt das internationale Projekt »Die Macht der Sprache«. Dabei geht es vor allem darum, welche Rolle Sprachen in unserer Welt spielen – und spielen sollen.
www.gfds.de
Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) ist eine Vereinigung zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Sie sieht es als ihre Aufgabe, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für die deutsche Sprache zu vertiefen und ihre Funktion im globalen Rahmen sichtbar zu machen. Die GfdS hat sich zum Ziel gesetzt, die Sprachentwicklung kritisch zu beobachten und auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung Empfehlungen für den allgemeinen Sprachgebrauch zu geben.
www.unwortdesjahres.org
Auch das »Unwort des Jahres« hat etwas mit der Sprachentwicklung einer Gesellschaft zu tun. Bei der 1991 begründeten und seither jährlich stattfindenden Aktion »Unwort des Jahres« sind alle Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, sprachliche Missgriffe zu nennen, die im jeweiligen Jahr besonders negativ auffielen. Gesucht werden Wörter und Formulierungen aus der öffentlichen Sprache, die sachlich grob unangemessen sind oder die Menschenwürde verletzen.
www.deutscher-sprachrat.de
Der Deutsche Sprachrat sieht es als seine Aufgabe an, die Sprachkultur im Inland und die Stellung der deutschen Sprache im Ausland durch Sensibilisierung des Sprachbewusstseins zu fördern.
www.bildungsserver.de
Sehr umfangreiche und gut recherchierte Linksammlung zum Thema »Sprachförderung« im Elementarbereich. Durchklicken über > Elementarbildung – Bildung und Erziehung in Kindertagesbetreuung > Pädagogische Praxis > Sprachentwicklung systematisch begleiten.
www.logopaedie.de
Ein Online-Informationszentrum für die deutsche und internationale Logopädie. Hier findet Kommunikation zwischen Fachleuten, Interessierten und Betroffenen statt.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/07 lesen.