Mit Khaleb, Lilian und Jonas Geschichten bauen
Nachdem Marlies Koenen in Heft 3/07 der Frage nachging, wie Geschichten entstehen, wie sich Dinge verwandeln und dadurch ihre besondere Bedeutung erhalten, stellt die Autorin im folgenden Beitrag an ausgewählten Beispielen dar, wie Sie gemeinsam mit Kindern unterschiedlichen Alters Geschichten aufbauen, erweitern, umbauen oder noch einmal neu erzählen können.
Erzählwege
Manchmal beginnen Geschichten so:
Am Rande einer großen, lauten Stadt steht zwischen Obstwiesen und Feldern ein kleines Haus mit einem roten Dach, einer Tür, die fast immer weit geöffnet ist, und vier Fenstern, zwei vorn und zwei dort, wo man über die Felder bis zum Wald schauen kann.
Im Haus wohnen ein Mann, seine Frau, ihre drei Kinder und eine Schar Hühner und Gänse, ein müder, alter Hund und eine kratzbürstige Katze. Aber nur so lange, bis die Frau wieder mal das ganze Getier vor die Tür jagt…
Manchmal beginnen Geschichten auch so:
In einer kleinen Stadt gibt es eine lange, breite Straße.
An dieser langen, breiten Straße stehen hohe, schmale Häuser mit vielen Fenstern und großen Türen.
Hinter den Fenstern ist es dunkel, als ob kein Mensch dort wohnt.
Eines Morgens kommt jemand die lange, breite Straße entlang.
Es ist ein kleiner Mann mit einem spitzen Hut und einem Spazierstock.
Von Zeit zu Zeit dreht er sich um, als ob er auf jemanden wartet.
Und tatsächlich – am Ende der Straße bewegt sich etwas, es kommt näher und näher…
… läuft ein Mal bellend um den kleinen Mann herum und flitzt dann weiter die Straße entlang, bis plötzlich dieses große, komische Dingsda auf dem Gehweg liegt…
Beim ersten Textbeispiel sind Kinder und Erwachsene mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit gefordert. Nur wenn sie genau zuhören, können sich ihre Vorstellungen – dem Erzählverlauf folgend – entwickeln, kann sich Bild an Bild reihen und die Zuhörenden zu immer detailreicheren Wahrnehmungsleistungen anregen.
Anders ist es beim zweiten Text. Hier wird unser Vorstellungsvermögen entlastet, denn die Geschichte baut sich vor unseren Augen auf, wir können dem Erzählweg rückblickend und voraus denkend folgen, wenn die Handlung anschließend weitergesponnen oder verschiedene Erzählvarianten erdacht werden sollen. Auch sind – anders als beim direkten Eintritt in einen komplexen Bildraum – die Ereignisse selbst von jüngeren Kindern sprachlich leicht zu erfassen und darzustellen, da sich Bedeutung Schritt für Schritt als ein lebendiger Geschehenszusammenhang erschließt.
Die eingesetzten Gestaltungsmittel können – je nach Thema, Formen und Materialien – aus der Bauecke oder aus der Natur stammen, von den Kindern gemalte oder aus Zeitschriften, Kalendern und abgelegten Lesebüchern ausgeschnittene Dinge sein, die in einer Bilderschatzkiste für das gemeinsame Erzählen aufbewahrt werden, aus deren Fundus sich der weitere Erzählverlauf entwickeln lässt.
Geschichten, die wie die vorausgegangenen nach dem Muster eines Erzählweges oder »am roten Faden entlang« entstehen und dabei häufig über mehrere Erzählstationen – Ereignispunkte für Begegnungen oder Abenteuer – entfaltet werden, können die Kinder durch ein Medium (Wäscheleine, Papierstreifen als Weg) zu einer bestimmten inhaltlichen Denkweise anleiten.
Geschichten an der Wäscheleine
Im Gruppenraum war eine Wäscheleine gespannt, in Reichhöhe der Kinder. Ein Korb mit kleinen und großen Wäscheklammern sowie die Bilderschatzkiste standen in der Nähe.
»An der Wäscheleine könnt ihr mit euren Papierfiguren spielen«, hatte ich einige Kinder ermutigt.
In der ersten Spielphase wurden Reihen gebildet: alle Häuser, alle Fahrzeuge, alle Tiere, die in der Kiste zu finden waren. Danach entstanden andere Zuordnungen: Häuser und ihre Bewohner, Tiere an bestimmtem Ort, Menschen und zugehörige Gegenstände…
Die Kinder unterhielten sich dabei über Zusammengehörigkeiten und erprobten gleichzeitig die neue Spieltechnik: etwas an die Leine klammern und versetzen, Figuren und Gegenstände mit der Klammer weiter schieben, Requisiten an Personen und Dinge anklammern.
Khaleb und Lilian erfanden für sich nach und nach erste kurze Spielszenen.
Lilian: »Guck, der Mann hier kommt von der Arbeit. Und da geht er gleich ins Haus rein.«
Sie klammert die Papierfigur hinter das Haus. Khaleb lässt aus seinem Haus eine Frau hervortreten.
Khaleb: »Das ist die Mutter. Die will noch einkaufen. Es ist kein Brot und keine Suppe da.«
Lilian: »Hier ist eine Einkaufstasche. Die Mutter braucht sie für die Sachen. So!«
Die Einkaufstasche wird angeklammert und die Mutter an mehreren Häusern vorbei bis zum Laden geführt, wo sie vor dem Schaufenster stehen bleibt.
Khaleb: »Sie guckt erst, was es da gibt.«
Die Sprache der Kinder bleibt in dieser anfänglichen Spielphase fast durchgängig kommunikativ, erweitert um die handlungsbegleitenden Kommentare und kurzes, eher impulsartiges Erzählen. Die Kinder wechseln in ihrer mündlichen Rede ganz selbstverständlich zwischen den genannten Sprachebenen.
Der Plumpsack wandert bis ans Meer…
Durch den Plumpsack, ein knuddelig verknotetes Fantasiewesen aus mehreren Taschentüchern, das Miriam immer mit sich herumträgt und nun plötzlich auftreten lässt, erhält das Spiel eine neue Dimension, denn der Plumpsack will »eine lange Wanderung machen, am liebsten bis zum Meer«.
Damit ist das Erzählziel vorbestimmt, auf das sich die Geschichte hinbewegen muss.
Gleichzeitig treten dadurch ganz neue Überlegungen auf: Haben wir ein Meer in der Bilderkiste? Eve wird eins malen.
Wo kann das Meer sein? Johan schlägt das Ende der Wäscheleine vor, »denn wo es ein Meer gibt, ist lange kein Land zu sehen«.
Wie kommt der Plumpsack zum Meer? Kira denkt an eine Zugreise. »Aber der Plumpsack will doch wandern«, erklärt Pedro. »Dann geht es nur zu Fuß, mit Zelt und Rucksack«, meint Anton.
»Eine Wanderung ist spannend«, sage ich, »da kann der Plumpsack verschiedene Tiere oder Leute treffen. Und da braucht er immer einen guten Platz zum Schlafen.« Ja, das finden die Kinder auch.
Die »Reisevorbereitungen« beschäftigen die Gruppe der acht Kinder einen ganzen Vormittag lang. Aber dann soll die Geschichte endlich losgehen, findet Anne, und so geschieht es auch.
Damit möglichst viele Kinder spielen können, haben wir bei der Planung des Reiseweges bestimmte Haltestellen vereinbart. Dort hängen von den jeweiligen Spielern gemalte Ereignisbilder, und dort findet immer auch ein Spielerwechsel statt. Zwischen den Stationen gibt es freie Leinenabschnitte, die erst während der Spielszene bebildert werden. Wer nicht spielt, ist Zuschauer, Ideengeber oder Sprecher.
Zu Spielbeginn unterstützen wir Zuschauer die Akteure noch durch simultanes Erzählen, aber mit jedem Spielerwechsel erweitern sich die sprachlichen Möglichkeiten, und die Kinder gestalten ihre Sprecherrollen zunehmend selbstständig.
Zu guter Letzt, als der Plumpsack das Meer erreicht hat und »zum ersten Mal in seinem Leben in so viel Wasser baden will«, gehen die Kinder mit mir vom Ende an den Anfang der Bilderleiste zurück. Jetzt erzählen sie im Wechsel, an der Wäscheleine entlang, die ganze Geschichte noch einmal von vorn, und ich schreibe sie auf, damit wir sie immer mal wieder lesen können.
»Eines frühen Morgens plumpst der Plumpsack aus dem Bett und sagt: ›Heute will ich eine Wanderung machen, und die dauert bis ans Meer…‹«
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/07 lesen.