»Jeder macht so seine Erfahrungen…«; »Das nehme ich auch so wahr!«; »Genau das habe ich auch erlebt.«
Betrachtet man diese Sätze genauer, wird es interessant...
Rainer Käsgen versucht zu erklären, wie Erfahrung sich bildet und warum das für die pädagogische Praxis bedeutsam sein kann.
Ein neues Bild von der Erkenntnistätigkeit des Menschen wird seit 20 Jahren als »Radikaler Konstruktivismus« beschrieben. Gemeint ist damit die theoretische Annahme, dass der Mensch die Welt, in der er lebt, nicht einfach als Ab-Bild oder Spiegelbild »erkennt«. Vielmehr gehen Konstruktivisten davon aus, dass jeder Mensch ein Bild der so genannten Wirklichkeit aktiv mit Hilfe seines Gehirns konstruiert. Ein individuelles Bild der Welt ist also immer ein individuelles Produkt.
Jeder Mensch hat seine eigene Konstruktion von Wirklichkeit. Verschiedene Menschen haben somit stets unterschiedliche Bilder der jeweiligen Wirklichkeit. Kinder entwickeln ganz eigene Bilder der Welt, in der sie leben. Und Erzieherinnen haben unterschiedliche Bilder der Welt, in der sie arbeiten. Die Bilder von Erziehung oder Kindern, die Eltern und Erzieherinnen sich machen, können sich gewaltig unterscheiden.
Protokoll: das Gehirn
Unser Gehirn nutzen wir – schon lange vor der Geburt, wie man heute weiß –, um uns ein Bild von der Welt um uns herum, von Dingen und Menschen zu machen. Dabei spielt die Zeit eine Rolle. In der Gegenwart – Wie lange dauert eigentlich Gegenwart? – nehmen wir wahr: kalten Kaffee, ein schreiendes Kind, eine aufgeregte Mutter, ein kaputtes Spielzeug, eine geschlossene Tür zum Leiterinnen-Büro. Daraufhin tun wir etwas: Wir lassen den Kaffee stehen, trösten das Kind, gehen der Mutter aus dem Weg, bringen das Spielzeug in die Werkstatt, denken uns unseren Teil über die Chefin. All das registrieren wir in unserem Gehirn, und die Abteilung »Gedächtnis« ermöglicht es uns, später einzelne Episoden als »Erlebnisse« zu erinnern und anderen Menschen davon zu erzählen.
Haben wir viele Erlebnisse, können wir Schlussfolgerungen daraus ziehen. Wir machen Erfahrungen wie: Ab 10.00 Uhr ist der Kaffee immer kalt; montags sind viele Kinder morgens schlecht drauf und schreien; bestimmten Müttern sehe ich immer schon von weitem an, wie ihre Stimmung ist; ich bin die einzige, die sich an die Abmachung hält, kaputtes Spielzeug in die Werkstatt zu bringen; wenn die Tür der Chefin zu ist, heißt das nichts Gutes…
Unser Gehirn ist das Protokoll unserer Wahrnehmungen, Erlebnisse und Erfahrungen.
Da ist was!
Mit einer aktuellen Wahrnehmung fängt alles an. Grob gesagt, passiert Folgendes: Aus unserer Um-Welt dringen physikalische Größen wie Schall, Licht, Druck, Schwerkraft, Geruchs- und Geschmacksmoleküle in unsere dafür spezialisierten Empfangssysteme: die Sinnesorgane. Sie bilden, wenn sie stimuliert werden, elektrische Ströme und schicken sie via körpereigener E-Mail ins Leitungssystem der Nerven. Die Ströme landen in der zentralen Mailbox, dem Gehirn, und werden dort durch unterschiedliche Filter und Strukturen geschickt. Mit dem Ergebnis: Da draußen ist was! Ich nehme etwas wahr!
Zwei Anmerkungen dazu: Dieses Wahrnehmungsgeschehen ist in der kindlichen Entwicklung von fundamentaler Bedeutung, besonders in den ersten Lebensmonaten. Es ist die Grundlage für Sprache, Denken, Bildung, Persönlichkeit. Deshalb ist es auch ein wichtiger Bestandteil pädagogischen und therapeutischen Handelns: basale Stimulation, mit allen Sinnen die Welt begreifen, Vertrauen und Selbstvertrauen fördern.
Da die »Beobachtung«, also das »Wahrnehmen« von Kindern, eine zentrale Rolle im pädagogischen Handeln spielt, muss sich jede Erzieherin klarmachen, dass ein und dasselbe Kind von unterschiedlichen Kolleginnen und erst recht von Eltern unterschiedlich wahrgenommen werden kann, weil jedes individuelle Gehirn eigene Bilder erzeugt.
Womit hängt was zusammen?
Immer reagieren wir auf unsere Wahrnehmungen: Mit dem Gehirn steuern wir eine Reaktion, tun etwas, verhalten uns irgendwie, sagen etwas, denken uns unseren Teil. Auch dieses Verhalten ist elektrisch über die Nerven gesteuert und hängt – dazu werden wieder diverse Filter und Strukturen im Gehirn genutzt – von individuellen Bewertungen und Einschätzungen ab: Ich könnte auch neuen Kaffee kochen. Ich könnte auch der Bezugserzieherin sagen: Die kleine Mirja weint. Ich könnte der Mutter auch ein freundliches Wort auf den Weg geben. Ich könnte das Spielzeug auch liegen lassen. Ich könnte der Chefin auch etwas Positives unterstellen: Sie braucht mal ihre Ruhe.
Ein Mix einzelner Wahrnehmungen, Gefühle und Reaktionen ist ein Erlebnis: Meist spielt es erst eine Rolle, wenn es schon vorbei ist. Aber: Ich kann mich erinnern, ich kann darüber erzählen.
Viele Erlebnisse in größeren Zeiträumen werden in unserem zentralen Bordcomputer ausgewertet: Wir forschen nach Zusammenhängen und Mustern, wir ziehen unsere Schlussfolgerungen, machen eben unsere Erfahrungen, und die Erfahrung macht klug: Sie hilft uns bei der Orientierung im Leben und bei den vielen Entscheidungen, die wir schnell und spontan oder langsam und mit viel Zeit fällen müssen.
Weil wir Menschen sind, wird es jetzt noch etwas komplizierter: Es gibt Rückkopplungen. Jede neue Wahrnehmung, jedes kleine Erlebnis hängt zusammen mit unseren Erfahrungen und damit mit unseren Hirnstrukturen. Wir können also gar nicht anders, als einerseits immer neu Kontakt zur Welt aufzunehmen, die Welt andererseits aber immer durch die Brille unserer Erfahrungen zu sehen. Wir können nicht »objektiv« wahrnehmen, sondern nur »subjektiv«. Niemals können wir hundertprozentig trennen zwischen unserer »Wahrnehmung« von etwas und uns selbst, unserer eigenen Wahrnehmungsperspektive. Das, was wir wahrnehmen, ist immer eine Beschreibung des Wahrgenommenen und eine Beschreibung von uns selbst.
Wozu ist das wichtig?
Es kann faszinierend sein, im Gespräch mit Kindern, im pädagogischen Fachgespräch oder in der individuellen Selbstreflexion darüber nachzudenken, wie die Welt in unsere Köpfe gelangt. Die Frage »Wie kommst du darauf?« kann, wenn sie von Wertschätzung, Neugier und Interesse geprägt ist, von großer Bedeutung sein: Sie kann zu mutiger und selbstbewusster Schilderung eigener Wahrnehmungen und Erfahrungen führen, sie kann das Verstehen untereinander verbessern, sie kann zu neuen Sichtweisen führen.
Wahrnehmung ist die Grundlage der Welterfahrung. Die (unterschiedlichen!) Sinne zu schulen ist von hoher Bedeutung in der kindlichen Entwicklung, aber auch in der pädagogischen Tätigkeit von Erzieherinnen, zum Beispiel bei der Beobachtung von Kindern und der Dokumentation von Beobachtungsergebnissen.
Hilfreich ist der Versuch, Wahrnehmungen von Bewertungen zu trennen: Was genau habe ich beobachtet (Wahrnehmung)? Was könnte das bedeuten (Bewertung)?
In Teamgesprächen ist es immer wieder eine gute Übung, die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Kolleginnen nebeneinander stehen zu lassen und sie zu sammeln. In Elterngesprächen ist es hilfreich, die verschiedenen Beschreibungen von Kindern zu akzeptieren und die Unterschiede als ein Zeichen von Vielfalt eher positiv zu bewerten, statt sie vorschnell als störend zu vereinheitlichen. Ratsam für die Teamarbeit oder die Zusammenarbeit mit Eltern ist es, nach der Beschreibung von unterschiedlichen Sichtweisen gemeinsame Schritte zu planen.
Für die Selbstreflexion ist es hilfreich, sich hin und wieder darauf einzulassen, nicht das Kind zu beobachten, sondern sich selbst: Wie kommt es, dass ich bestimmte Dinge so sehe und interpretiere, wie ich es tue? Daran können Sie möglicherweise für sich etwas erkennen, was den Filter Ihrer Wahrnehmung vielleicht verändert.
Viel Spaß bei der nächsten Wahrnehmung! Viel Erfolg bei der nächsten Planung eines gemeinsamen Schrittes!
www.ibs-networld.de/ferkel/
Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem systemischen Denken und Handeln ermöglicht das »gepfefferte Ferkel«, ein Online-Journal für systemisches Denken und Handeln.
www.autopoietische-systeme.de
»Eine kurze Reise zum Konstruktivismus« heißt ein Essay, das den Konstruktivismus in knapper Form in die Geschichte der Erkenntnistheorie eingliedert und versucht, die Frage zu beantworten, auf welche Problemstellung der Konstruktivismus antwortet. 17 Seiten, kostenloser Download als PDF-Dokument.
www.quarks.de
Die Sendereihe »Quarks & Co« ist das Wissenschaftsmagazin des WDR-Fernsehens. Der Sendung zum Thema »Wahrnehmung« wurde ein 16-seitiges Begleitheft gewidmet, das sich kostenlos unter > Begleithefte > Wunder Wahrnehmung herunterladen lässt.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07/07 lesen.