Gänseblümchen wachsen fast auf jeder Rasenfläche und gehören zu den bekanntesten Pflanzen Mitteleuropas. Ihre Blüten gehören zu den ersten im Frühjahr, die unser Auge erfreuen. Jedes Kind kennt sie.
Als ich ein kleines Mädchen war, gehörten sie zu meinen Lieblingsblumen. Sie waren immer in meinem Blickfeld und begleiteten mich den Sommer hindurch. Sie waren Lehrmeister und Weggefährten beim Spielen und halfen mir über Augenblicke der Langeweile hinweg. Ich konnte die Zeit vergessen, wenn ich auf dem Rasen saß, das feuchte Gras unter mir spürte und die weißen Tupfer sich vor mir wie ein Teppich ausbreiteten.
Gänseblümchen waren die einzigen Blumen, die ich im Garten meines Großvaters pflücken durfte. Ich erinnere mich noch daran, wie ich aus dem Drang heraus, die armen Pfingstrosenknospen von Ameisen zu befreien, ganze Arbeit leistete, und sämtliche Knospen von den Stängeln amputierte. Die Folgen blieben nicht aus und prägten sich mir so tief ein, dass ich mich fortan lieber auf Gänseblümchen spezialisierte.
Meine ältere Freundin konnte – so fingerfertig wie geduldig – wunderbare Kränze aus Gänseblümchen flechten und verwandelte uns in Blumenköniginnen. Aber wir kochten auch Suppen aus Gänseblümchen, schnitten ihre Stiele in Stücke, zerbröselten die Blütenköpfchen und sammelten dabei naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Mathematik fand statt, wenn wir die Blütenblättchen einzeln abzupften. Und wenn wir die gelben Blütenkörbchen kauten, wurden wir zu Feinschmeckern. Am besten fanden wir die ganz jungen Blättchen aus dem Inneren der Rosette. Sie schmeckten nussig und leicht bitter. Erst neulich kostete ich wieder mal ein Gänseblümchen, um mich zu erinnern.
Inzwischen weiß ich, dass Gänseblümchen auch als Heil- und Futterpflanze verwertet werden. Mit den Blüten kann man Salat dekorieren, und die Knospen – sauer eingelegt – dienen als Kapernersatz. Sie sollen eine Blut reinigende Wirkung haben, weil sie ätherische Öle und Gerbstoffe enthalten.
Wir kannten Gänseblümchen wirklich gut. Morgens, wenn das Gras noch voller Tautropfen hing, hielten sie sich verschlossen. Sie schlafen noch, meinten wir. Erst langsam wachten sie auf, streckten sich und entfalteten ihre bescheidene Schönheit. Für solche Naturbeobachtungen hatten wir unendlich viel Zeit. Niemand unterbrach, störte oder belehrte uns, niemand wusste alles besser.
Sehr gut gefiel mir das Märchen vom Däumelinchen, das unter Gänseblümchen aufwuchs, und ich stellte mir lebhaft vor, welchen Gefahren es dort ausgesetzt war. Überhaupt hatte ich viele Bilderbücher, in denen die kleinen Blumen eine Rolle spielten, sprechen und lachen konnten. Malte ich ein Bild, fehlten die freundlichen und liebenswerten Naturgeschöpfe selten. Ausdauernd und konzentriert malte ich mit dünnem Bleistift jedes einzelne Blättchen. Oder ich legte stundenlang Blumenbilder und Muster aus Gänseblümchen – es gab sie ja in Hülle und Fülle. Manchmal bewahrte ich sie in Gefäßen auf, mit und ohne Wasser, presste sie und klebte sie auf Briefe oder verschenkte Sträußchen aus ihnen, jedes Jahr auf’s Neue. Wenn sich bei solchen Beschäftigungen ein Schmetterling, ein Käfer oder ein anderes Krabbeltier dazu gesellte, nahmen meine Spiele eine abwechslungsreiche Wende.
Schön, dass Gänseblümchen über das Jahr blühen und Erwachsene anstiften, die Schublade der kostbaren Kindheitserinnerungen mal wieder zu öffnen.
Dagmar Arzenbacher