Begriffe versenken war gut. Aber was sagen wir stattdessen? – Gerlinde Lill macht Vorschläge.
Hilfe, Ansteckungsgefahr! Bazillen, Viren, Infektionen – wer will denn so was verschenken? Da mobilisieren wir doch ganz schnell unsere Abwehrkräfte!
Halt, halt. Mit der An-Steckung ist es wie mit der Zu-Mutung: Es kommt darauf an, von wo aus man guckt und in welche Richtung.
Die Virenträger…
Es muss nicht immer Husten oder Schnupfen sein, womit ich mich anstecke. Zum Glück habe ich ganz andere und viel inspirierendere Erfahrungen, denn ich kenne Menschen, in denen Erreger stecken, die ich gern übernehme. Am liebsten jeden Tag einen anderen. Und die brüte ich dann aus…
Kennen Sie auch jemanden mit ansteckendem Lachen? So ansteckend, dass Sie mitlachen müssen, selbst wenn Sie gar nicht wissen, worum es geht? Solche Menschen verbreiten Lebensfreude. Es wird heller im Raum und ein bisschen wärmer in ihrer Nähe.
Oder die Begeisterten, Ideenreichen, Unternehmungslustigen, die so voller Energie stecken, dass sie alle mitreißen. Ganz wunderbar finde ich auch die Klugen und Nachdenklichen, die genau hinschauen und sich nicht mit der Oberfläche zufrieden geben. Sie stellen Fragen, die in meinem Kopf sofort »Junge kriegen«. Das ist meine liebste Krankheit. Und dann sind da noch Anstecker, die so viel Ruhe ausstrahlen, dass ich selbst zur Ruhe komme.
Sie alle bringen eine Disposition mit, die produktive oder entspannte, fröhliche oder nachdenkliche Atmosphäre verbreitet. Sie wirken mitreißend und inspirierend, haben Ausstrahlung und Charisma. In ihrer Nähe ist man beschwingt oder übermütig, lässt sich auf Abenteuer ein und traut sich, Ungewohntes zu denken. Man will plötzlich raus aus der eigenen Enge, entdeckt unvermutete oder vergessene Potenziale, will Bäume ausreißen und zu neuen Ufern aufbrechen. Es kribbelt. Der Virus arbeitet.
… und was sie anrichten
Was bringt Ansteckung, wenn wir sie nicht mit Krankheit in Verbindung bringen? Oder besser: Was lässt sich übertragen und doch individuell deuten?
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Sich nahe kommen: Anstecken kann sich nur, wer sich rantraut. Und andere kann nur anstecken, wer nicht auf Abstand bleibt.
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Infektionsrisiko: Dem kann man nur entgehen, wenn man sich isoliert.
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Sender und Empfänger: Einer hat’s, und einer kriegt’s. Doch warum so einseitig? Es geht zugleich in beide Richtungen, und zwar sogar gut. Wie bei der Kommunikation: Einer sagt was, der andere hört es, tut seins dazu und gibt es zurück.
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Erreger nisten sich ein und beginnen zu arbeiten. Die Inkubationszeit ist meist kurz.
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Manchmal verbreiten sich Viren so rasend schnell, dass sie eine Epidemie auslösen.
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Anstecken hat mit anstiften zu tun, mit zündeln. Dazu braucht es inneres Feuer, denn nur wer selber brennt, kann andere entzünden
Ausstrahlen, begeistern, beschwingen, inspirieren, mitreißen, übertragen. Lauter Begriffsgeschwister von anstecken. Und umgekehrt? Sich animieren und infizieren lassen, Ideen aufsaugen, bis man fast platzt, andere damit anstecken, bis eine Welle in Gang kommt…
Ach, wäre das schön, wenn ich einen Bazillus züchten könnte, der sich unter Erwachsenen unaufhaltsam verbreitet: Die Lust am Fragen und Infrage-Stellen, am Selber-Denken und Sich-ein-eigenes-Bild-Machen, die Freude am Unvollkommenen, die Offenheit für Unbekanntes, das Brennen für eine Idee. Und der Mut am Widersprechen. Wäre das schön, wenn alle Abwehrkräfte versagen und keine Schutzimpfungen helfen würden.
Wieso eigentlich züchten? Das ist gar nicht nötig. Es gibt den Virus schon. Die Kinder haben ihn. Lassen wir uns von ihnen anstecken.
Die Beobachtungs-Influenza
Ein Erreger ist auf jeden Fall im Spiel – ansteckend, aufregend, anregend.
Manchmal auch ermüdend? Überreizend? Ja, leider. Nicht immer ist der Veränderungsvirus, den wir uns einfangen, einer, der alle Lebensgeister weckt. Die Grenzen sind offenbar fließend. Doch immer wird etwas übertragen. Fragt sich nur, was. Und fragt sich, ob das, was sich da ausbreitet, uns weiterbringt.
Da fällt mir ein Bazillus ein, der sich unter Pädagogen epidemisch verbreitet: die Beobachtungs-Influenza. Statt uns davon krankmachen zu lassen, sollten wir einen anderen Erreger in Umlauf bringen wie ein Gegengift: genau hinschauen und aufspüren, wann und wie Kinder einander mit ihrer Fantasie anstecken und ihre eigenen Welten schaffen.
Haben wir das nicht oft erlebt: Eine Spielidee verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Haus, ein Einfall heckt den nächsten. Was ist eigentlich unser Part dabei? Was tun wir, damit die kindlichen »Viren« sich ausbreiten können? Schaffen wir Raum und Gelegenheiten, bringen wir bei, was die Verbreitung erleichtert? Lassen wir uns von der kindlichen Begeisterung anstecken? Oder versuchen wir, all das im Keim zu ersticken, das unseren Plänen zuwiderläuft? Den Blick auf solche Fragen zu richten – das könnte der Pädagogenkrankheit mit B die Angriffsfläche entziehen.
Ich habe mal in meinen Erinnerungen gekramt… Wenn ich wollte, könnte ich ein Buch mit Ansteckungsgeschichten unter Kindern füllen, die mit Kopfläusen nur entfernt zu tun haben. Immer, wenn Erwachsene wirklich »der Spur der Kinder folgen« und nicht vorher eine Laus im Kopf haben, die ihnen sagt, was hinterher zu sehen sein soll, gibt es freudige Überraschungen. Wie das folgende Beispiel zeigt.
Ein Sommermärchen
Ein Junge, viereinhalb, nennen wir ihn Julius, sieht im Fernsehen einen Sport-Wettkampf. Tags darauf baut er aus Bauklötzern ein Siegertreppchen und stellt seine Lieblingshelden drauf. Übrigens allesamt Figuren, die Erzieherinnen scheußlich finden: He-Man, Spiderman und solche starken Charaktere.
Freund Paul fragt, wer erster, zweiter und dritter Sieger geworden sei, und die Jungen diskutieren, wie das zu ermitteln wäre. Klar: Es muss wirklich ein Wettkampf stattfinden. Damit eine echte Entscheidung fällt. Schließlich kann man so was nicht austrudeln.
Gesagt, getan. Zunächst ist Hochsprung dran. Also wird eine Stange auf zwei hohe Türme gelegt – eine ziemlich wacklige Angelegenheit –, und los geht’s. Mal schafft es ein Springer, mal fällt die Stange runter. Verschiedene Sprungtechniken werden erprobt. Wie heißen die? Flip Flop? Nee, ein Flop ist doch, wenn etwas schief geht. »Biiiiiieni! Wie heißt das, wenn die beim Hochsprung...« Bieni weiß es auch nicht, will aber ihren Vater fragen, wenn er sie abholt.
Clara-Sophia meint, ein Flop seien Schuhe: »So Latschen.« Mit Latschen kann man doch nicht springen, finden die Jungen: »Nee, da stimmt was nicht. Egal, das kriegen wir schon noch raus. Bis dahin nennen wir es Rolle vorwärts und Rolle rückwärts.«
Clara-Sophia schaut dem Treiben eine Weile zu und schlägt vor, die Höhen zu messen und Buch zu führen. Weil kein Mensch im Kopf behalten kann, wer nun höher flog. Also wird ein Zollstock besorgt, Block und Stift. Clara-Sophia führt Buch.
Jetzt wird’s ernst, der Wettkampf beginnt. Die bisherigen Versuche werden unter Training verbucht.
Im Nu verbreitet sich der Sport-Virus im ganzen Haus. Immer mehr Sportarten erhalten Austragungsorte. Kuscheltiere und andere Teilnehmer werden auf ihre Eignung für die verschiedenen Sportarten getestet: Wer kann gut sprinten, wer ist eher für Gewichtheben geeignet? Schiedsrichter und Preisrichter werden erkoren, Stadien gebaut, Messinstrumente der verschiedensten Art herangeschafft. Stoppuhren erfreuen sich besonderer Beliebtheit. Es wird gemessen und gewogen; 100-Meter-Läufe sind schwere Prüfungen für Knie und Hosenbeine. Die Marathon-Strecke zieht sich durch alle Räume, und wenn es Mittagessen gibt, werden die Läufer kurz zwischengelagert. Die Zuschauerreihen füllen sich mit denen, die sich als Leistungssportler nicht eignen oder keine Lust haben: Nilpferde zum Beispiel oder Babypuppen.
Die Siegerehrungen werden immer professioneller, mit Nationalhymnen und Fahnen. Auch die Presse ist da, filmt und macht Interviews. Es gibt eine Zeitung, in der die Sieger abgebildet und gefeiert werden.
Nach und nach zieht Kita-Olympia alle Kinder und Erwachsenen in den Bann – wie im richtigen Leben. Auch dahin springt der Funke über: Die Kinder wollen selbst sportliche Wettkämpfe austragen. Hochsprung ist besonders beliebt. Eine Mutter, die Leistungssport betrieben hat, springt voller Begeisterung als Trainerin ein. Natürlich berichten die Reporter darüber. Es werden Medaillen hergestellt, und die Kinder diskutieren, ob es nur drei Sieger geben soll. Ist das gerecht oder ungerecht? Was kann ein Nilpferd dafür, dass es nicht hoch springen kann? »Na, nix. Darum sitzt es ja auf der Bank. Zuschauer muss es auch geben.«
Die Olympia-Euphorie in der Kita hält einen Sommer lang: ein Sommermärchen vor der Fußball-WM, das mit einem riesigen Fest, mit Tanz und Feuerwerk endet.
War das nun Bildung?
Wer mag, kann die verschiedenen Kompetenz- und Bildungsbereiche herausfiltern. Achtung, fertig, los!