Als ich ein kleines Mädchen war, verbrachte ich viel Zeit bei meiner Tante Hanni. Bei ihr war alles alt: das Haus und die Möbel, das kostbare Geschirr, das silberne Besteck, die Bilder, die Fotos und der Inhalt ihrer Schubfächer, die ich heimlich und voller Neugier inspizierte. Sie hatte nicht nur schön illustrierte Märchenbücher, nicht nur Knopfkisten und Nadelkissen, in die ich die Nadeln mit den bunten Köpfchen steckte, wenn ich ihr beim Nähen auf der alten Nähmaschine zusah – sie besaß auch ein Grammophon, auf dem sich Shelllackplatten drehten und mir die »Träumereien« von Schumann näherbrachten.
In ihrem Schlafzimmer stand eine Waschschüssel aus Porzellan. Vor dem Zubettgehen tupfte sie mein Gesicht mit einem Läppchen ab. Das Beeindruckendste war aber die Frisierkommode. Genau genommen ein zierlicher weißer Tisch mit einer Glasplatte, unter der ein gesticktes Deckchen lag. Ich sehe noch die gedrechselten Holzverzierungen des Tischleins vor mir, die griffigen Porzellanknöpfe an den Schubladen und all die verlockenden Dinge, die sich darin verbargen.
Darüber war ein dreiflügliger, geschliffener Spiegel befestigt. Man konnte ihn ganz zuklappen und ihn genüsslich langsam wieder entfalten. Das Spiegel-Triptychon wurde mein Lieblingsplatz, an dem ich mich meinen Selbstbetrachtungen ungestört hingeben konnte. Ich beobachtete mich, lachte, weinte, lächelte, verzog meinen Mund und probierte alle möglichen Varianten meiner Mimik und Gestik aus: Wer bin ich? Wer kann ich sein? In wen oder was kann ich mich verwandeln? Wem strecke ich die Zunge heraus? Wie rede ich mit wem?
Die Zeit blieb stehen, wenn ich Stirn, Nase, Proportionen und Augenstellung verglich. Kamm und Bürste mit silbern glänzenden Beschlägen dienten zur Kreation neuer Frisuren. Der Frisierumhang meiner Tante roch nach Parfüm, er zierte den Hals und auch die Frisur.
Puderdosen zum Aufklappen mit Spiegel auf der Innenseite, Zerstäuber mit Quasten, Tiegel und Töpfchen beschnupperte ich und trug heimlich was von den edlen Substanzen auf.
Aber vor allem galt mein Interesse dem Spiegelspiel. Wieso konnte ich mich von hinten, von der Seite, im Profil, doppelt, mehrfach und unendlich oft erblicken? Weshalb fasste ich auf die falsche Wangenseite, wenn ich einen Fleck im Gesicht wegwischen wollte? Links und rechts wurde zum
Problem, denn ich wusste nichts von spiegelverkehrten Reflexionen.
Das Spiel mit den Spiegeln bot mir einen Einblick in die Symmetrie. Bin ich weit weg, ganz nah, bin ich genauso groß wie mein Spiegelbild?
Mit einem zusätzlichen Handspiegel wurde die Verwirrung noch größer... Mit meinem Lippenstiftmund drückte ich einen Kuss auf den Spiegel und freute mich an dem Abdruck. Schwierig war das Flechten der Zöpfe mit Blick in den Seitenspiegel. Wie müssen die Spiegel einander gegenüberstehen, in welchem Winkel zueinander, damit ich mich gut sehen kann?
Ich probierte, bis ich es herausfand. Der Vergrößerungsspiegel meiner Tante gefiel mir auch. Mit ihm erforschte ich kleine Unebenheiten der Haut, studierte meine Augäpfel und entdeckte das Zäpfchen ganz hinten im Rachen.
Faszinierend war auch, das Zimmer hinter mir aus anderen Blickwinkeln zu betrachten, aus dem Fenster zu schauen und feststellen, dass es sich spiegelte, dass sogar die Sonne sich spiegelte. Alles, was glänzt, spiegelt das Licht, merkte ich.
Ich erinnere mich an Pfützen, an glasklare Gewässer, in denen wir Kinder Lichtphänomene wahrnahmen, wenn es windstill war. Mit kleinen Handspiegeln fingen wir die Sonnenstrahlen ein, spielten an kahlen Häuserwänden Spiegellichtfangen und gewannen dabei spielerisch physikalische
Einsichten.
Heute faszinieren mich spiegelnde Glasfassaden moderner Hochhäuser. Sie verzerren die Ansicht, stückeln Einzelteile mosaikartig zusammen, zeigen uns Abstraktionen, Schräges und Verzerrtes, Städtisches und Bewegtes auf kuriose Weise. Oft ergeben sich optische Täuschungen und Irritationen, Farbspielereien und Lichteffekte.
Sind Fenster gewölbt, erscheinen die Spiegelbilder kleiner, und bei einer Kugel stehen sie sogar auf dem Kopf. Manchmal erwische ich mich, wie ich mein Spiegelbild in Schaufensterscheiben
suche...
Spiegel haben es in sich. Vom Einwegspiegel bis zum Spion, von der Weihnachtskugel bis zum Hohlspiegel, von der Spiegelreflexkamera bis zum Spiegellabyrinth, vom Parabolspiegel bis zum Kaleidoskop und vom toten Winkel bis zum Spiegelei. Seit wann gibt es eigentlich Spiegel?
Kontakt
Dagmar Arzenbacher
Schuppen 9
Fortbildungsstätte für Erzieherinnen
Bahnhofstr. 37a
12207 Berlin
Tel.: 030/772 15 30
eMail:
www.wdrmaus.de
Wie wird eigentlich ein Spiegel hergestellt? Die »Maus« weiß es. Durchklicken über > Sachgeschichten > Spiegel.
www.wundersamessammelsurium.de
Eine interessante Seite über naturwissenschaftliche Spielereien. Unter > Optisches findet sich einiges zum Thema > Flache Spiegel und > Gebogene Spiegel.
www.vision2form.nl/spiegelgeschichte.html
Wer wissen will, wie der Spiegel entstand und wie er sich im Laufe der Zeit veränderte, erfährt hier das Wichtigste in aller Kürze.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/07 lesen.