»Man darf Kinder nicht prügeln, Nee! Auch nicht, wenn man Mama ist! Nee, das geht nicht. Wenn man das macht, kommt man ins Menschengefängnis für Bestrafung!«
Ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit kennt die vierjährige Laura bereits und kann es auch formulieren. Was als abstraktes Menschenrecht in Artikel 2 des Grundgesetzes steht, »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« kann das Vorschulkind bereits auf sich und ihre Situation beziehen. »Babys haben das Recht, gewickelt und gefüttert zu werden.« konkretisiert der vierjährige Niklas, großer Bruder einer kleinen Schwester, dieses Menschenrecht für die jüngsten Bürgerinnen, die sich noch nicht so gut artikulieren können wie er.
In der kommunalen Kindertagesstätte Bünningstedt in Holstein, kurz »Kitabü« genannt, wurde über Kinderrechte laut nachgedacht. Das Ergebnis dieses Kitabü-öffentlichen Nachdenkens: die gesammelten Aussagen der Kinder, ihre Zeichnungen, in denen sie ihre Vorstellung von Recht ausgemalt haben sowie die Reflexionen der Erzieherinnen liegen jetzt in der Broschüre »Recht bedeutet, du hast Recht« gedruckt vor. Gut sechs Wochen lang hatten die Erzieherinnen mit den Kindern in kleinen, altershomogenen Gruppen, über »Rechte« und »Rechte haben« gesprochen. Für diese Gespräche hatte das Team einen klaren Rahmen verabredet:
- Es wurden nur weckende Fragen gestellt, die ein echtes Interesse signalisieren und die nicht mit einem einfachen »ja« oder »nein« beantwortet werden können, wie zum Beispiel »Wie denkst Du darüber« oder »Was bedeutet das für Dich« oder »Hast Du das schon mal erlebt?«.
- Die Gedanken der Kinder wurden möglichst wörtlich aufgezeichnet; entweder protokollierte eine Kollegin mit oder, mit Erlaubnis der Kinder, durch Tonaufnahmen. Manche Erzieherinnen zogen es vor, allein mit den Kindern zu arbeiten.
- Die protokollierten Aussagen wurden den Kindern am nächsten Tag vorgelesen, was Anlass für neue Präzisierungen, Korrekturen und Vertiefungen war. Diese Dialoge wurden an mehreren, aufeinander folgenden Tagen fortgesetzt.
»Die Kinder haben auf jedes Wort geachtet und uns oft korrigiert«, erinnert sich die Leiterin der Kitabü, Marion Tielemann, die das Projekt initiiert hat. »Für uns war das eine ausgezeichnete Übung im Zuhören und sehr genau Hinhören«.
Grundrecht auf Selbstbestimmung
In den Dialogen der Kinder untereinander wurde deutlich, wie schon Vier- und Fünfjährige in der Lage sind, den abstrakten Begriff »Recht« ganz konkret auf den Punkt und mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit in Verbindung zu bringen.
»Meine Mama kommt und verletzt dich, wenn ich ihr das sage!«
»Das darf sie gar nicht, das ist verboten!«
»Stimmt, dazu hat sie gar kein Recht!«
Diese intensive Dialogarbeit löste bei manchen Erzieherinnen schmerzhafte Erinnerungen aus und setzte eigene Reflexionsprozesse in Gang: »Als Kind wollte ich das Recht haben, mein Zimmer so einzurichten, wie ich es wollte«, erinnert sich Claudia, »ich habe oft mit meiner Mutter darüber gestritten, weil sie mein Recht immer wieder hintergangen hat.“ Jetzt erlebt diese Erzieherin, wie ein Fünfjähriger den Begriff »Recht« besser verständlich formulieren kann als sie selbst:
»Recht ist, wenn man etwas darf!« sagt Eric, „Ich darf mit meinem Papa angeln gehen. Das ist mein Recht!«
So viel Selbstbewusstsein hatte sie selbst als Kind nicht, bilanziert die Pädagogin und ist sich bewusst, dass sie »es heute als Erwachsene immer wieder neu lernen muss.«
Das Menschenrecht auf Selbstbestimmung ist für diese Kindergartenkinder sehr konkret:
»Ich habe das Recht, in der KitaBü das zu machen, was ich will und wozu ich Lust habe. Ich kann über mich selbst bestimmen!!!« sagt die vierjährige Svea. Und die gleichaltrige Ronja präzisiert: »Du darfst nicht über mich bestimmen und ich habe das Recht zu sagen, was ich will.«
Jüngere Kinder beziehen Rechte in erster Linie auf ihre Gefühle:
»Ich habe das Recht, wütend zu sein. Meine Wut ist unsichtbar, die Luft kann sie wegpusten.« sagt ein Vierjähriger.
»Wenn ich wütend bin, habe ich das Recht, alleine zu sein und Ruhe zu haben in meinem Bett«, konkretisiert ein Gleichaltriger dieses Recht. Auf seiner Zeichnung ist ein wütendes Gesicht erkennbar und viel schwarze Farbe.
Rechte als Regeln für alle
Die fünfjährige Laura kann sich bereits in die Empfindungen anderer einfühlen und deren Rechte beim Umgang mit Wut in den Blick nehmen:
»Jeder Mensch hat das Recht wütend zu sein. Wenn meine Eltern wütend sind, sagen sie es vier- bis fünfmal und dann erst werden sie laut.«
Sechsjährige können bereits die allgemeine Gültigkeit eines Rechts von besonderen Situationen unterscheiden, die das Recht einschränken:
- »Man hat das Recht, Scherze zu machen, solange man lebt.«
- »Erwachsene dürfen Scherze machen wie Kinder.«
- »Ich habe nicht das Recht, beim Essen Scherze zu machen, aber ich habe das Recht, etwas zu sagen.«
Diese Vorschulkinder haben eine Vorstellung davon, dass Rechte das Zusammenleben der Menschen regeln: »Rechte muss man einhalten, sonst macht ja jeder, was er will, und das geht nicht. Meine Brüder können doch nicht einfach in die Schule gehen, wann sie wollen. Die Glocke heißt, rein in die Klasse – leider ganz schön früh!«
Die eigene Situation in Worte fassen
Ein Gleichaltriger, der bei diesen Dialogen stumm daneben gesessen und in die Ferne geblickt hat, sagt plötzlich:
»Ich werde gar nicht gefragt, ich muss immer überall mit, mein Recht ist nicht da, nein es ist weg!«
In einer solchen Äußerung wird deutlich, dass dieses Kind keineswegs passiv und unbeteiligt war, sondern aktiv und intensiv zugehört hat. Die über Tage dauernden, immer wieder aufgenommenen Dialoge, haben bei ihm eine Reflexion über seine Situation in Gang gesetzt. Er kann das, was gesagt wird, auf sich selbst beziehen und findet eigene Worte für seine Lebenssituation. Hier wird deutlich, dass dieses Projekt »Rechte von Kindern« mehr ist, als das Wissen und das Verständnis der Kinder zu erkunden und zu dokumentieren. Mit dem Satz »... mein Recht ist nicht da, nein es ist weg!« hat das Kind Worte gefunden, mit denen es seine existenzielle Situation adäquat beschreibt. Hier findet nicht nur Sprachförderung statt, in dem Sinne, dass das Kind die Bedeutungen von Worten und Sätzen lernt; vielmehr gebraucht das Kind hier Sprache kreativ. Sie dient ihm als Ausdruck seiner Existenz – eine Dimension von Unterstützung der Sprachentwicklung, die herkömmliche Sprachförderungsprogramme nicht zu leisten in der Lage sind.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/07 lesen.