Die große Nachfrage nach fundierter Fortbildung zur Reggio-Pädagogik führte dazu, dass in Zusammenarbeit mit Dialog Reggio Deutschland und der Akademie Franz-Hitze-Haus in Münster ein Fortbildungs- und Qualifizierungsprojekt für Erzieherinnen und Erzieher entwickelt wurde, das sich am Menschenbild und dem Bildungskonzept der Reggio-Pädagogik orientiert.
Der folgende Bericht von Anja Höfting, Alexandra Vos und Hildegard Wies entstand nach Abschluss des ersten Weiterbildungskurses 2005/2006. Die Autorinnen beschreiben die veränderte Sichtweise auf die Arbeit mit Kindern, entstanden aus dem neuen Verständnis frühkindlicher Bildung, das die Teilnehmerinnen erwarben.
Zwei Lerngeschichten von Kindern aus verschiedenen Einrichtungen im Raum Münster veranschaulichen die Umsetzung in die Praxis der Erzieherinnen.
In kleinen Gruppen machten die Erzieherinnen in Räumen, die zu Ateliers umgestaltet worden waren, eigene Erfahrungen mit Projektarbeit. Sie forschten, arbeiteten praktisch, entdeckten Neues, stellten Hypothesen auf, gingen Kompromisse ein, einigten sich auf Vorgehensweisen im Rahmen eines bestimmten Themas und waren fasziniert von ihren eigenen Lernwegen.
Schließlich dokumentierten sie die Lerngeschichte ihrer Gruppen. Sie erlebten die Wichtigkeit der Beziehung für die gemeinsame Arbeit ebenso wie die herausragende Bedeutung der unterschiedlichen Formen bildnerischer Darstellung für den eigenen Erkenntnisweg. Dazu kam die Erfahrung, dass Bildungsprozesse immer eigensinnige Selbstbildungsprozesse sind.
Aufgaben der Erzieherin
Damit Lerngeschichten im Sinne der Reggio-Pädagogik entstehen können, brauchen Kinder nicht nur anregende Räume und Umgebungen, die zum Forschen einladen, sondern auch Erwachsene als aufmerksame Zuhörer und strukturierende Begleiter. Es ist die Aufgabe der Erzieherin, die Themen gemeinsam mit den Kindern aufzufinden, ihnen bei der Umsetzung ihrer Ideen zur Seite zu stehen und – falls erforderlich – gut durchdachte Impulse zu geben. Damit Projekte gelingen können, übernimmt die Erzieherin eine weitere wichtige Rolle: Sie ist das Gedächtnis der Kinder.
Das Sammeln und Aufbewahren ihrer Gespräche, ihrer Ideen, Entwürfe, Hypothesen und Darstellungen ermöglichen die Dokumentation. Es entsteht eine Wechselbeziehung zwischen den Werken und den Kindern, den Kindern untereinander sowie den Kindern und Erwachsenen. Dies ermöglicht und fordert das Nachdenken der Kinder über ihre eigenen Lernschritte hinaus. Sie erleben eine Form des Sich-Beteiligen-Könnens, die sie spüren lässt, dass sie einander im Denken weiterbringen. Sie erleben Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit und Bedeutung.
Wie in Reggio nutzen manche Erzieherinnen die Möglichkeiten des Kinderparlaments, um die Kinder in all ihren Anliegen und Bedürfnissen zu Wort kommen zu lassen. Begeistert und verwundert berichten sie, wie selbstbewusst die Kinder ihre Partizipationsmöglichkeiten in der Projektarbeit nutzen und wie selbstverständlich sie neue Wege ausprobieren.
Das Spinnennetz-Projekt
Die Herangehensweise der Teilenehmerinnen an die Projektarbeit in der Praxis veränderte sich im Verlauf des Kurses ebenso wie ihr Blick auf das Kind und seine selbstbestimmten Bildungswege. Sie erlebten, wie sie in alltäglichen Situationen verlockende Themen für die Kinder wahrnehmen und mit ihnen entwickeln konnten.
Als Teilnehmerin am Qualifizierungsprojekt »Die hundert Sprachen des Kindes« machte auch Anja Höfting diese Erfahrung. Sie arbeitet im dritten Berufsjahr in der Kita Sued e.V. in Münster und berichtet über »Das Spinnennetz Projekt«:
Wir hatten beobachtet, dass die drei- bis fünfjährigen Kinder, sobald sie allein im Atelier waren, unsere gesamte Wolle im Raum verteilten. Nun erlebten sie nicht nur unsere Verärgerung darüber, sondern mussten auch noch aufräumen. Im Team überlegten wir sogar, wie wir solche Aktivität künftig erfolgreich unterbinden könnten. Doch die neue Sichtweise ließ mich erkennen, dass hinter dem Woll-Chaos ein Bedürfnis der Kinder stecken musste. Diesem Bedürfnis wollte ich auf den Grund gehen und schlug den Kindern vor, den kompletten Wollvorrat mit in die eigene Gruppe zu nehmen, um dort frei darüber verfügen zu können. Begeistert griffen die Kinder den Vorschlag auf. Im Gruppenraum angekommen, experimentierten sie mit der Wolle. Ihren Dialog nahm ich mit einem Diktiergerät auf:
Jakob: Kommt, wir machen ein Spinnennetz!
Karla: Ich fang an. Schau mal, ein Band wie eine Schneeflocke. (Sie hält ein fransiges, weißes Wollknäuel in der Hand.)
Eda: Oh, das ist ja schön!
Karla (singt): Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit…
Finja: Ich nehme mir die rosa Wolle, die ist auch schön.
Jakob: Ich rolle sie einfach hin und her, dann kommt ein Spinnennetz.
Lea: Guck mal, ich mache das so! (Sie rollt zwei Wollknäuel über den Boden, so dass sie sich immer wieder kreuzen.)
Felix: Ich nehme nur eins, das geht auch.
Lea: Guckt mal, da kann ’ne Spinne drüber krabbeln.
Der Boden war zu diesem Zeitpunkt mit vielen Wollfäden bedeckt. Da die Kinder zunächst im Zweidimensionalen verharrten, entschied ich mich dafür, einen Impuls zu setzen. Ich nahm einen Faden auf, führte ihn vom Klettergerüst zum Trampolin und weiter zur Lampe.
Jakob: Guckt mal, Anja hat das da oben gemacht! Ich werf da die Wolle drüber. Immer wieder.
Felix (wirft auch Wolle darüber, wirkt aber unzufrieden): Wie machst du das? Meine wickelt sich gar nicht ab.
Jakob: Du musst was abwickeln und festhalten. Das geht!
Felix: Abwickeln und festhalten. (Er versucht es so, wie Jakob es ihm gesagt hat, und lächelt, als er sieht, dass es klappt.)
Eda: Oh, ein Spinnennetz in der Luft! Wie ein Klettergerüst.
Karla: Wir machen ein echtes Spinnennetz. Ein echtes!
Finja: Da können die Spinnen klettern. Wie wir an unserem Klettergerüst.
Felix: Das ist eine Falle für uns.
Karla: Ja, ich hänge immer fest. Ganz schön schwer.
Felix: Vorsichtig!
Karla: Ich bin ja vorsichtig, aber meine Puschen nicht! Die zieh ich jetzt aus.
Eda: Das ist wirklich für richtige Spinnen.
Lea: Ja, wir sind Spinnennetzmacher.
Jakob: Genau! Wir sind Spinnen, weil wir das Spinnennetz machen.
Karla: Erik kann da reinfallen, dann haben wir ihn. Dann haben wir ihn gefangen.
Jakob: Ja, wie richtige Spinnen! Die fangen auch.
Karla: Das ist eine Falle für die Bösen! Die fangen wir hier! Cora-Finja und Erik.
Anja: Aber die sind doch nicht böse, oder?
Karla: Cora beißt immer und Erik ärgert. Das ist blöd.
Anja: Genau! Das, was sie manchmal machen, ist blöd. Aber sind Erik und Cora-Finja denn blöd?
Karla: Nein, sie selber nicht. Aber dass sie ärgern ist blöd.
Lea: Ich mag Cora-Finja und Erik. Nur das Ärgern nicht.
Eda (singt): Schöne Wolle, Wolle, Wolle... Schöne Netze, Netze, Netze...
Lea: Guck mal, hier! (Sie hält ein rotes Wollknäuel in der Hand.)
Eda: Ist schön, oder? Einfach schön.
Lea: Ich hab so schöne Farben.
Eda: Stimmt. Ich habe aber auch schöne.
Lea: Ja, alles ist schön. Guck mal hier, noch eine Rolle. (Sie hat ein neues Wollknäuel aus dem Korb genommen.)
Eda: Ist das hier ein Gewusel! (Sie singt:) Leilileilileililei…
Finja: Richtig schönes Gewusel! Ich bespinne das Klettergerüst mit einem neuen Klettergerüst für Spinnen. Spinnen und Kinder zusammen.
Felix: Da können dann alle klettern. Aber nicht springen, hat Anja gesagt. Wegen dem Spinnennetz. Das ist gefährlich. Mit dem Hals und so...
Finja: Ja, ja.
Konzentriert experimentierten die Kinder länger als eine Stunde. Ihre Auseinandersetzung mit dem Material, mit dem Raum und die Kooperation miteinander schufen eine dichte Atmosphäre. Mein Interesse und meine Wertschätzung – schließlich zeichnete ich die Aktion auf – beflügelten die Kinder, immer weiter zu arbeiten. Jakob: »Anja hat ihren Block da. Jetzt ist wieder ganz wichtig, was wir sagen.«
Zum Mittagessen kamen andere Kinder in den Raum. Ihre Bewunderung gipfelte in dem Wunsch, auch so etwas zu machen. Die Projektkinder stimmten zu, und nach dem Essen arbeiteten 14 Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren an dem Spinnennetz.
Nach dem Wochenende traf ich mich mit den Projektkindern im Atelier. Sie trugen ihre Erinnerungen zusammen und erzählten begeistert von ihrem großen Spinnennetz. Ich schilderte ihnen, was ich beobachtet hatte, und schlug vor, im Atelier zum Thema »Spinnen« zu arbeiten. Da sie die Methode, Skizzen anzufertigen, noch nicht kannten, war dies ihr erster Versuch, ihr Bild von einem Spinnennetz mit Papier und Bleistift aufzuzeichnen.
Engagiert und entspannt ließen sie sich auf diese Aufgabe ein und zeichneten mit großer Genauigkeit. Nachdem sie ihre Zeichnungen beendet hatten, fragten sie nach neuen Aufgaben und griffen den Impuls auf, Spinnennetze aus Pfeifenputzern herzustellen, also wieder in die räumliche Darstellung zu wechseln. Obwohl sie auch diese Aufgabe mit viel Hingabe erfüllten, waren sie noch nicht zufrieden und machten von der Möglichkeit Gebrauch, Spinnennetze mit Wasserfarben zu malen.
Obwohl Störungen auftraten, ließen sich die Kinder von ihrer Tätigkeit nicht abbringen. Ihr Thema war offensichtlich weniger das Spinnennetz als Naturphänomen, sondern vielmehr das Erkunden und Erleben von Räumen. Auch das Thema »Verbindungen« spielte eine wichtige Rolle.
Bei ihrer Arbeit im Atelier wechselten die Kinder von der Zweidimensionalität der Zeichnung zur räumlichen Darstellung mit Pfeifenputzern und wieder zurück zur Fläche beim Malen mit Wasserfarben. Ihre Engagiertheit und ihr Vertieftsein zeigten mir ihre Lust beim Lernen und bestätigten mich in meiner neuen Vorgehensweise. Indem ich ihren Wegen folgte und sie genau beobachtete, fand ich heraus, was sie bewegte, was ihr Lernbedürfnis war. Die Kinder spürten, dass mir ihr Handeln wichtig und ich bei ihnen war. Später spielte ich den Kindern das aufgenommene Gespräch vor, und sie hörten aufmerksam zu.
Bei den unterschiedlichen Gestaltungsmethoden im Atelier konnte ich auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, die ich während der Fortbildung gemacht hatte.
Das wundervolle erste Projekt beschäftigt die Kinder noch immer. Wenn wir im Atelier arbeiten, sagen sie: »Wie damals beim Spinnennetz...« Probieren wir etwas mit Wolle aus, höre ich: »Weißt du noch, das Riesenspinnennetz in der Pferdegruppe?«
Das Spinnen-Projekt
Auch in der Schilderung von Alexandra Vos, Leiterin der Kita »Emilia« in Münster, die das Projekt ihrer Mitarbeiterin begleitete, tauchte das Thema »Spinnen« auf, wurde aber von den Kindern ganz anders behandelt. Eindeutig stand hier das Tier mit seiner Gestalt und seinen Lebensgewohnheiten im Mittelpunkt.
Alexandra Vos geht in ihrer Beschreibung von den Grundlagen aus, die für das Gelingen eines Projektes notwendig sind.
Ausgangssituation
Ausgestattet mit Proviant und Verpflegung, suchte die Waldgruppe einen geeigneten Platz zum Picknicken. Nach kurzer Verschnaufpause erkundeten einige Kinder die Umgebung. Herumliegende Äste wurden begutachtet und als Schwerter umfunktioniert. Einige Jungen hatten das Bedürfnis, mit den Schwertern gegen einen Baum zu schlagen. Sie hatten Lust, sich anzustrengen und Kraft zu investieren: »Das ist ein Drache, der bekämpft wird! Ich beschütze euch, weil ich nämlich stark bin.«
Plötzlich hörten wir Rufe und heftige Diskussionen auf der Picknickdecke. Zwei Kinder hatten eine Spinne entdeckt. Sie lief über die Picknickdecke. Die erste Reaktion der Kinder: Beine wegziehen und aufstehen. Die Spinne bewegte sich nicht mehr, die Kinder auch nicht. Sie schienen einander zu betrachten. Bei der Spinne war ich mir nicht sicher, aber die Kinder waren neugierig geworden.
Dialog Reggio ist ein gemeinnütziger Verein mit dem Ziel, die Erfahrungen der Reggio-Pädagogik für die institutionelle Erziehung und Bildung in Deutschland fruchtbar zu machen.
www.arages.de
Die Arachnologische Gesellschaft e.V. (AraGes) ist ein Zusammenschluss aller deutschsprachigen Arachnologen, die sich auf wissenschaftlicher Basis mit Spinnentieren beschäftigen.
www.flickr.com
Über die Eingabe »Spinnennetz« lassen sich in der größten freien Foto-Community viele schöne Fotos zum Thema finden.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/06 lesen.