Weihnachten ist in meiner Erinnerung mit Geheimnissen und Fantasien verbunden. Die Wochen vor dem Heiligen Abend waren gefüllt mit Heimlichkeiten, Wünschen, Träumen und Märchenwelten. Da Konsum noch keine derartige Rolle spielte wie heute, vertrieben wir uns die Zeit mit Vorbereitungen, Basteleien und Geschichten. Es gab nichts im Überfluss, nicht Unnötiges, kaum Kitsch oder Spielzeug, dessen wir nach einiger Zeit überdrüssig wurden.
Ich kann mich noch an Geschenke auf dem Gabentisch erinnern. Einmal bauten meine Eltern für mich eine Puppenstube. Das nahm zwar ihre Zeit in Anspruch, aber sie hatten sicher auch viel Spaß dabei. Liebevoll wurden kleine Gardinen genäht, Lämpchen mit Batterie befestigt und Treppen zur oberen Etage geklebt. Sogar an ein kleines Klo mit Wasserspülung kann ich mich erinnern.
Alles geschah hinter verschlossener Tür. Wie wir das nur ausgehalten haben! Durchs Schlüsselloch zu spähen war zwecklos. Wir hörten nur das Rascheln, Knistern und Hämmern...
In einem anderen Jahr wurden meine Puppen neu bekleidet, bestrickt und benäht. Puppe Renate und Sabine verschwanden des öfteren zur Anprobe.
Meine Mutter war auch sonst geschickt und überraschte mit weihnachtlichem Zauber. Sie bügelte Strohhalme, die dadurch verschiedene Brauntöne annahmen, und fädelte sie zu wunderbaren Sternen zusammen. Ich schaute auf ihre Hände und brachte auch so manch schräges Gebilde zustande, das am Weihnachtsbaum einen Ehrenplatz bekam.
Das Tollste war jedoch, wenn meine Mutter goldenes Staniolpapier kaufte und mit der Gestaltung eines Rauschgoldengels begann. Sein Rock bestand aus plissiertem Goldpapier, worin sie kleine Muster schnitt. Der Kopf wurde aus Wachs geformt und fein modelliert. Zartes Engelshaar zierte und krönte das Haupt. Die Flügel wurden ebenfalls aus Goldpapier geschnitten. Außerdem bekam der Engel Arme mit weiten Flügelärmeln und zierliche Wachshände. Am Heiligen Abend glänzte er feierlich im Kerzenlicht. Ich hatte Respekt und Ehrfurcht vor ihm. Er erschien mir sehr groß, gespielt habe ich nie mit ihm. Vielleicht habe ich mit ihm gesprochen.
Meine Tante Hanni aus Cottbus schickte regelmäßig kleine Holzengel mit Musikinstrumenten, die aus dem Erzgebirge kamen. Ich wusste, dass sie sehr kostbar waren. Meine Engelsammlung wuchs und wuchs, bis alle auf einer blauen Holzwolke Platz fanden: der auf dem Flügel spielende Engel, die Geiger, der Posaunenbläser, Triangel- und Harfenspieler, einige Sänger mit kleinen Notenblättern in ihren Händen und ein Dirigentenengel, der das Orchester zusammenhielt. Einige Engel überlebten das jährliche Einpacken in Seidenpapier und Verstauen bis heute. Sie erfreuen nun meine Enkel.
Durch die Engel lernte ich die ersten Instrumente kennen. Später spielte ich selbst Flöte und verkleidete mich mit meiner Freundin als Weihnachtsengel. Wir schnitten uns Flügel aus Goldpapier, befestigten sie mit Bändern auf dem Rücken, hüllten uns in weiße Tücher und banden uns goldenes Geschenkband um die Stirn. Himmlisch! Flöte spielend, sammelten wir bei unseren Nachbarn Süßigkeiten. Vorher übten wir oft. Diese aufregenden Vorbereitungen waren das Schönste.
Mit den Erzgebirgsengeln spielte ich ausgiebig. Sie hatten alle Namen und besondere Fähigkeiten. Manche waren frech, andere lieb. Einer beschützte mich, einer hörte mir zu. Manche konnten unsichtbar werden und wussten, ob ich geschwindelt oder heimlich genascht hatte.
Meine kunstbegeisterten Eltern nahmen mich oft in Gemäldeausstellungen mit, und die alten Bilder von Künstlern wie Jan van Eyck, Dürer, Raffael oder Cranach fesselten mich lange. Auf vielen waren geflügelte Wesen zu finden, die um das Christkind schwirrten: manche ganz nackt, aber mit verschleiertem Unterleib, manche in Rüstungen und furchteinflössend. In Kunstbüchern suchte ich an endlosen Wintertagen oft nach diesen Gestalten.
Die Vorstellung, dass sie in den Wolken wohnen – das hatte ich auf den Bildern Alter Meister gesehen –, beflügelte meine Fantasie. Ich fragte mich, warum sie im Winter so dürftig bekleidet sind, und schloss, dass sie sich nie erkälten. Für mich waren sie sehr gesellig, hatten keine Pflichten, spielten und flogen, ohne dass Erwachsene ihnen etwas verboten. Sie mussten auch am Abend nie früh ins Bett. Es gab keinerlei Grenzen in ihrer Welt der Lieblichkeit.
Ihre kindlichen Gesichter und Proportionen erlaubten, mich mit ihnen zu identifizieren. Vielleicht waren sie ein Symbol für mich, Abgesandte einer Welt, in der alle Träume wahr werden. Also auch das heiß ersehnte Weihnachtsgeschenk...
Selbst heute weht mich in der Vorweihnachtszeit das Gefühl an, ein wenig abgehoben durch die Gegend zu schweben, wenn die Engel und Engelchen bei jedem Schritt und in allen Variationen um mich fliegen. Wo so viele Engel sind, entsteht eben eine Art himmlische Atmosphäre. Das hebt die Weihnachtsstimmung und sicherlich den Verkaufserfolg des örtlichen Einzelhandels.
Ob kleine Kinder sie auch sehen?
Klara (6) ist der Überzeugung, dass Weihnachtsengel dem Weihnachtsmann helfen. Sie wohnen auf Wolken und hüpfen darauf herum, weil ihnen das Spaß macht. Wenn der Himmel wolkenlos ist, fliegen sie gen Süden, wo es warm ist, denn sie haben keinen Mantel wie der Weihnachtmann. Ansonsten beobachten sie die Kinder, telefonieren auf ihren Handys mit dem Weihnachtsmann und sagen ihm, ob die Kinder brav oder frech waren. Zur Weihnachtszeit treffen sie sich, weil Freunde sich überall finden.
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Dagmar Arzenbacher Schuppen 9
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