In der Bremer Sozialverwaltung wird nach Erklärungen für den Tod des zweijährigen Jungen gesucht. Die Zeit der Rechtfertigungen beginnt.
Joachim Pape ist jetzt so eine Art Lichtgestalt. Das kann auch daran liegen, dass es im Moment so viel Schatten gibt in Bremen. Pape ist der einzige unter den Verantwortlichen der staatlichen Fürsorge, der nicht versagt hat. Der erkannt hat, dass Kevins Leben bedroht war.
»Man muss den Jungen nur einmal im Arm gehalten haben, dann wusste man alles. Solche Kinder haben einen leeren Blick, sie erwarten nichts mehr. Sie schreien nicht. Sie haben schon alles erlebt. Kevin war apathisch, ganz offensichtlich notleidend, das konnte jeder sehen, der Augen hat.« Joachim Pape ist Leiter des Hermann-Hildebrand-Hauses in Bremen, in dem das Kind zwei Mal in seinem Leben für kurze Zeit untergebracht war. Jeder konnte es sehen, nur der für Kevin zuständige Sozialarbeiter nicht. Er erkannte keinen Grund für einen Heimaufenthalt über zwei Wochen hinaus.
Joachim Pape protestierte. So ein verwahrlostes Kind habe er noch nie ge-habt, es sei unterernährt, psychisch und motorisch gestört, brauche dringend Hilfe. Damals, im November 2005, war Kevin ein Jahr und zehn Monate alt, wog acht Kilo, konnte nicht laufen und gab keinen Ton von sich. Er lag einfach nur da. Sein Vater, Bernd K., 41 Jahre alt, war soeben aus der Psychiatrie entlassen worden, wohin die Polizei ihn zwangsweise eingewiesen hatte, nachdem er den Zutritt zu seiner Wohnung verweigert hatte. Darin lag Kevins tote Mutter. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft, ob ihr Tod ein Unfall oder ein Gewaltverbrechen war, ob Bernd K. als Täter in Frage kommt. Der Vater nahm sein wehrloses Kind mit nach Hause. Der Heimleiter alarmierte daraufhin auch den Bürgermeister Jens Böhrnsen, Mitglied des Heimvorstands. Böhrnsen machte seine Sozialsenatorin auf den Fall aufmerksam. Erst nach Kevins Tod erinnerte sich Böhrnsen der eindringlichen Warnung aus dem Hermann-Hildebrand-Haus.
Joachim Pape, 53, ist jetzt der berühmteste Heimleiter Deutschlands. Doch die Lichtgestalt will nicht ans Licht. Er hat ein paar Mal berichtet, was er über Kevin wusste, aber der Fall zog immer größere Kreise. Die Kamerateams standen vor dem Kinderheim und bei ihm zu Hause. Maischberger und Jauch fragten an, da hat er die Sache beendet. »Ich wandere nicht durch Talkshows, ich leite ein Kinderheim.«
In Deutschland kommen jedes Jahr hundert Kinder durch Gewalt, Verwahrlosung oder Misshandlung zu Tode, das sind nur die registrierten Fälle. Experten schätzen die Zahl misshandelter oder vernachlässigter Kinder auf 25.000 bis 100.000. Allein innerhalb von acht Tagen im Oktober wurde der gewaltsame Tod von drei Kindern in Bremen, Sangerhausen und Zwickau bekannt. Die wenigsten Fälle graben sich in die Erinnerung ein wie der von Dennis (4) aus Cottbus, der verhungert in einer Kühltruhe lagerte, und der von Jessica (7) aus Hamburg, die eingesperrt bis aufs Skelett abgemagert war.
Der Fall Kevin aber hat eine andere Dimension: Dieser Tod fand unter intensiver Aufsicht der Behörden statt. Zwar arbeiteten auch bei Jessica staatliche Stellen fahrlässig, weil sie die Ausreden nicht überprüften, mit denen die Mutter ihr Kind von der Schule fernhielt. Doch hier war das Drama hinter dem Vorgang nicht zwingend erkennbar. Es machte nur deutlich, dass es in Deutschland möglich ist, sein Kind bis zur Einschulung zu verstecken, ohne dass ein Arzt es je gesehen hat, ohne dass eine Behörde aufmerksam wird.
Kevin dagegen, ein Kind drogenabhängiger, arbeitsloser Eltern, war von Geburt an ein Betreuungsfall. Er hatte drogenverseuchtes Blut, musste wie seine Mutter in einer Klinik entgiftet werden. Der Vater hatte mehrfach im Gefängnis gesessen, immer wieder auch wegen Körperverletzung. Aber selbst als die Polizei den ersten Verdacht auf Misshandlung meldete, blieb das Amt ganz ruhig – es fanden sich keine Misshandlungsspuren. Das sechs Monate alte Baby blieb bei den Eltern, ohne Hilfe und Kontrolle. Zwei Monate später kam Kevin in die Klinik – mit zwei gebrochenen Unterschenkeln, Rippenbrüchen, einer Schädelfraktur, einem älteren Unterarmbruch. Die Eltern sagten, das Kind hätte sich im Gitterbettchen verhakt. Die Ärzte erstatteten keine Anzeige, informierten aber das Jugendamt.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/06 lesen.