Eine Kita flexibilisiert ihre Öffnungszeiten
Weniger Anmeldungen als im Vorjahr – eine Feststellung, die Kita-Teams alarmiert. Wie kommen wir – angesichts der zurückgehenden Geburtenzahlen – zu neuen Kindern? Woher nehmen und nicht stehlen?
Dass neue Kinder neue Eltern haben, ist klar. Dass diese Eltern womöglich andere Bedürfnisse haben als ihre Vorgänger, pfeifen noch nicht alle Spatzen von den Dächern.
Was ein Berliner Kita-Team sich einfallen ließ, um zu neuen Kindern und Eltern zu kommen, erfuhr Erika Berthold.
Im Süden Neuköllns, im Stadtteil Rudow, liegt der INA.KINDER.GARTEN Flurweg. Er ist umgeben von einer Siedlung aus Ein- und Mehrfamilienhäusern. Die Straßen tragen Blumen- und Pflanzennamen: Arnika, Beifuß, Löwenzahn. Eine Idylle? Eher nicht.
Eine Schallschutzmauer hält den Lärm der stark befahrenen Neuköllner Straße fern. Der Flughafen Schönefeld ist nicht viel mehr als zehn Kilometer entfernt, und die Gropiusstadt, ein riesiges Neubaugebiet, liegt ganz in der Nähe.
Dennoch: In den letzten Jahren wurden immer weniger Kinder angemeldet.
Die Ausgangssituation
»Nach dem Trägerwechsel – wir waren bis vor zwei Jahren eine Kita des öffentlichen Dienstes – stellten wir fest, dass wir in unserem Einzugsbereich nicht mehr genügend Kinder haben«, erzählt Brigitte Lüttschwager, die Leiterin. »Hinzu kam noch der Senatsbeschluss im vorigen Jahr, der die Hortkinder in den Verantwortungsbereich der Schule schob, so dass 75 Kinder zum Schuljahresbeginn 2005 unsere Einrichtung verließen.
Sie müssen sich vorstellen: Wir haben 235 Plätze für Kinder vom Säuglings- bis zum Schulalter. Durchschnittlich waren 220 Plätze belegt, davon 40 mit Krippen- und 60 mit Hortkindern. Plötzlich änderte sich das, und wir hatten nur noch 160 Kinder im Haus. Dass das in Bälde verheerende Auswirkungen auf unseren Personalschlüssel und die Arbeitsplätze der Erzieherinnen haben würde, daran bestand kein Zweifel.«
Wie erhöhen wir den Gebrauchswert der Kita möglichst schnell und auf eine Art und Weise, die uns wieder steigende Kinderzahlen bringt? Das war die Frage, die Brigitte Lüttschwagers Team sich nun stellte.
Was tun?
Auf Dienstbesprechungen berieten die Frauen, wie man das Problem lösen könnte, und sammelten Ideen: Man könnte in der Kita eine Beratungsstelle für Eltern einrichten, mit Psychologen, Kinderärzten und anderen Fachleuten zusammenarbeiten. Man könnte das Haus umgestalten, mit Saunalandschaft und Schwimmbad. Man könnte die bisherigen Öffnungszeiten in den Abend hinein ausweiten und eventuell sogar am Wochenende öffnen. Man könnte...
Schließlich entschied sich das Team für die Einführung verlängerter Öffnungszeiten: von 6.00 bis 21.00 Uhr. Es versprach sich davon sofortigen Nutzen für die Eltern, deren Kinder die Kita schon besuchen, und einen Wettbewerbsvorteil auf dem Kita-Markt.
War das eine schwere Entscheidung?
»Wissen Sie, wenn es darum geht, ob man seinen Arbeitsplatz behält oder nicht, wird einem die Entscheidung leicht gemacht. Alle waren sofort dafür«, erinnert sich die Erzieherin Andrea Hoene.
Argumente für die Neuerung häuften sich geradezu. »Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Frauen, die im Dienstleistungsgewerbe oder in Krankenhäusern tätig sind, nicht wissen, wo sie ihre Kinder unterbringen können, wenn sie Schicht arbeiten«, sagt die stellvertretende Leiterin, Ortrud Stehle. »In den Gropiuspassagen und an der Späthstraße liegt ein Einkaufszentrum am anderen. Vom Flughafen und dem Neuköllner Krankenhaus ganz zu schweigen. Außerdem: In den vergangenen Jahren fragten Eltern immer mal wieder nach längeren Öffnungszeiten. Wir versuchten dann, Babysitter zu vermitteln, denn so lange wir eine Einrichtung des öffentlichen Dienstes waren, lag der Gedanke, die Öffnungszeiten dem Bedarf der Eltern anzupassen, eher fern.«
Auch eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid1 bestätigte die Überlegungen des Teams: Mehr als die Hälfte der berufstätigen Mütter bekommen Beruf und Familie nicht unter einen Hut, weil der »Engpass Kinderbetreuung« flexibles Reagieren auf die Anforderungen der Arbeitswelt verhindert. Fatal sind die Folgen für Frauen, die – wenn sie sich für ein Kind entscheiden – ganz oder teilweise aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen oder ihre beruflichen Möglichkeiten von vornherein nicht wahrnehmen können, weil es an flexibel geöffneten Einrichtungen für ihre Kinder fehlt.2
Bei einer Recherche des Teams stellte sich heraus: Im Stadtbezirk Neukölln gibt es keine Kita, die längere Öffnungszeiten anbietet. Man betrat also Neuland.
Der Probelauf
Die Entscheidung für die Einführung längerer Öffnungszeiten würde die bisher etablierten personellen und organisatorischen Strukturen verändern. Das musste gut vorbereitet werden. Es gründete sich eine Arbeitsgruppe, der eine Vertrauenserzieherin aus jeder der vier Abteilungen des Hauses und das Leitungsteam angehörten. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden regelmäßig mit dem Träger abgestimmt, der das Projekt in jeder Hinsicht unterstützte.
Mit folgende Fragen beschäftigte sich das Gremium: Wie können wir die bisher erreichte pädagogische Qualität bei gleichbleibendem Personalschlüssel und gleichzeitigem Ausbau der Betreuungszeit um dreieinhalb Stunden für alle Kinder garantieren? Können wir wie bisher gruppenbezogen arbeiten? Oder sind Öffnungsprozesse unerlässlich? Was brauchen Kinder, die bis 21.00 Uhr in der Kita sind? Wie viele Bezugspersonen sind für ein Kind zuträglich? Wie viele Erzieherinnen werden für die späten Dienste gebraucht? Welche Aufgaben kommen auf die Kolleginnen in der Küche zu, wenn es Abendbrot geben soll? Welche unentdeckten personellen Ressourcen verstecken sich in der Kita? Wird zusätzliche personelle Unterstützung gebraucht? Wie kurzfristig dürfen Eltern Bedarf anmelden? Wie soll die Dienstplangestaltung für die Kita und die einzelnen Abteilungen aussehen? Wo werden Kinder mit längeren Anwesenheitszeiten untergebracht – in einer eigenen Gruppe, in einer altersgemischten Gruppe oder verteilt auf alle vier Abteilungen? Wie wird die Öffentlichkeit über das neue Angebot informiert?
Viele Fragen. Doch das Team und seine neue Arbeitsgruppe waren motiviert.
»Um herauszufinden, über welche personellen Ressourcen wir verfügen, erfassten wir die Kinderanwesenheitszeiten über einen Zeitraum von vier Wochen hinweg und setzten sie in Relation zu den anwesenden Erzieherinnen«, berichtet Brigitte Lüttschwager. »Die Auswertung ergab: Morgens bis 8.00 Uhr und nachmittags ab 16.00 Uhr sind die Kinderzahlen so gering, dass sich jeweils eine Erzieherin pro Abteilung für andere Arbeitszeiten zu Verfügung stellen kann. Nun sollte uns eine hausinterne Umfrage Anhaltspunkte für den tatsächlichen Bedarf an Spätbetreuung liefern. Ergebnis: Fünf Familien meldeten sich.«
Die Arbeitsgruppe hatte entschieden, den Probelauf in den ehemaligen Horträumen zu starten. Eine Erzieherin übernahm die Betreuung der Spät-Kinder. Andrea Hoene erinnert sich: »Wir haben zusammen Spaghetti gekocht, schön gemütlich, wie zu Hause. Angedacht war, dass wir Ausflüge verlagern, wenn es mehr Kinder werden: Ein Teil der Kolleginnen geht vormittags mit Kindern ins Schwimmbad, ein Teil nachmittags, so dass die Spät-Kinder auch teilnehmen können.« Außerdem wurde ein Box mit Karteikarten der Spät-Kinder angelegt, die neben den üblichen Daten alle eventuell nötigen Notdienstnummern enthält.
Doch: Das neue Angebot wurde anfangs nur zögerlich in Anspruch genommen. Die Eltern nutzen es lediglich in Ausnahmefällen. Sein Kind abends noch in der Kita zu wissen, das schien Schuldgefühle auszulösen. Im Zweifelsfall wurde die Oma, wenn vorhanden, vorgezogen. Und neue Eltern hatten sich noch nicht eingestellt. – Das sollte sich ändern.
Kontakt
INA.KINDER.GARTEN
Brigitte Lüttschwager · Ortrud Stehle
Flurweg 77 · 12357 Berlin
Tel.: 030/66 16 081
eMail:
Internet: www.kita-flurweg.de
24 Pädagoginnen betreuen auf der Grundlage des Situationsansatzes und des Berliner Bildungsprogramms 200 Kinder vom Säugling bis zum Schulanfänger. Im Hauswirtschaftsbereich sind vier Kolleginnen und zwei Kollegen – der Koch und der Hausmeister – beschäftigt.
Die Studie »Zukunftsfaktor Kinderbetreuung« der DIHK in Kindertageseinrichtungen kann hier als PDF herunter geladen werden. Durchklicken über > Familie > Kinderbetreuung > weitere Informationen.
www.familienbuendnisse.de
Viele Studien und Berichte über die Möglichkeiten des Ausbaus der Kindertagesbetreuung und deren Vorteile finden Sie unter > Bündnis Service > Themenauswahl >Kinderbetreuung.
www.bildungsserver.de
Hier finden sich Zahlen um die Themen »Familie« und »Erwerbstätigkeit«, vor allem von Müttern, sowie zum Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen. Die Zahlen basieren teils auf amtlichen Statistiken, teils auf nicht-amtlichen Untersuchungen. Durchklicken über >Elementarbildung – Bildung und Erziehung in Kindertagesbetreuung > Struktur, Recht, Zahlen, Berichte > Zahlen zur Kindertagesbetreuung > Erhebungen, Studien, … > Zahlen zu Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen.
www.inakindergarten.de
Leitfaden für die vorschulische Bildung und Erziehung in den Kindertagesstätten von INA.KINDER.GARTEN ist der Situationsansatz, nach dessen Grundsätzen das Berliner Bildungsprogramm pädagogisch umgesetzt wird. Mehr Infos zu INA und dem Kindergarten auf dieser Seite.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/06 lesen.