Sprachförderung in den ersten Lebensjahren
Immer wieder erhoffen sich Erzieherinnen in Fortbildungen Patentrezepte zur Sprachförderung, gleich einem Trainingsplan aus dem Fitnessstudio: montags 10 Minuten Grammatik, dienstags 10 Minuten Wortschatz, mittwochs 10 Minuten Artikulation, donnerstags 10 Minuten Sprachverständnis, freitags frei...
Verständlich, die Suche nach dem Rezept.
Doch nach dem ersten PISA-Schock wird der Markt für solche »Förderprogramme« immer größer, und es entsteht der Eindruck, dass Sprache mit dem passenden Förderprogramm hervorzulocken wäre. Leider ist dem nicht so, weiß Anja von Maydell, denn...
... wenn wir an unsere eigene Kindheit denken, werden wir uns wohl kaum an besondere Förderprogramme erinnern. Oder?
Auch Laufen haben wir nicht gelernt, weil die Eltern unsere »Laufmuskulatur« täglich 10 Minuten nach Förderplan gezielt massiert haben. Wir haben laufen gelernt, indem wir uns hochzogen, versuchten, das Gleichgewicht zu halten, umkippten, beim Umkippen merkten, dass wir uns zu weit nach vorn gebeugt hatten, und gleich noch mal probierten – ein bisschen weiter nach hinten gelehnt. Jede Sekunde in der Senkrechten steigerte unsere Motivation, weiter zu probieren, um die Schwerkraft länger zu überwinden.
Die Bildungsprogramme der Bundesländer gehen davon aus, dass kindliche Entwicklung Selbstentwicklung ist. Indem ein Kind eigene Aktivitäten startet, sucht es Antworten auf seine Fragen nach der Weltbeschaffenheit. Auf diesem Weg macht es sich ein Bild von sich und der Welt.
Erzieherinnen sind aufgefordert, aufmerksam zu beobachten, um zu verstehen, welches Thema ein Kind gerade bewegt. Sie haben die Verantwortung, es durch Anregungen, Material, Umgebung und Ermutigung zu begleiten und es dabei zu unterstützen, Antworten auf seine Fragen zu finden und sein Weltverständnis zu erweitern. Wie sieht diese Begleitung und Unterstützung im Bereich der Sprache aus? Um die Antwort zu finden, muss man sich anschauen, wie ein Kind Sprache erwirbt.
Die erste wichtige Erkenntnis für ein Kind ist die Erfahrung, dass Sprache etwas überaus Sinnvolles ist, dass es sie erlernen kann und erlernen wird. Dieses Wissen hat ein Baby bei der Geburt noch nicht.
Die erste wichtige Erkenntnis für Erwachsene ist, dass Kinder Sprechen und Sprache aus eigenem Antrieb erwerben und das Zutrauen in ihre wachsenden Fähigkeiten entschieden mehr hilft als die Suche nach Defiziten und dazu passenden Therapien.
Sprachförderung beginnt mit der Geburt
Kommt ein Kind zur Welt, ist es umgeben von einem Geräuschbrei: Ein Auto fährt vorbei, eine Tür klappt, Musik spielt im Hintergrund, der Vater erzählt etwas über seine fünf Finger. Das Kind nimmt all diese Geräusche wahr, hat aber kein angeborenes Wissen über die Funktion von Sprache. Es hat jedoch einen angeborenen Schreireflex: Bei Unwohlsein schreit es. Reagieren Eltern oder anderen Bezugspersonen auf dieses Signal, macht das Kind eine wichtige sprachliche Erfahrung: Ich gebe ein Signal, indem ich schreie, und darauf wird reagiert; ich kann mit der Umwelt Kontakt aufnehmen und sie über meinen Zustand informieren. Dieser Erfolg motiviert das Kind, so etwas immer wieder zu probieren.
Reagieren Sie also auf lautliche Signale des Kindes – schreien, glucksen, gurren, lallen –, indem Sie freundlich mit ihm sprechen und herauszufinden suchen, welche Signale es Ihnen geben will, damit es merkt, dass es sich der Welt mitteilen kann und verstanden wird. Bedenken Sie jedoch, dass Babys Zeiten brauchen, ihren eigenen Körper und – in Bezug auf Sprache – ihre Arti-kulationsorgane ungestört zu erforschen. Das heißt, dass nicht jedes Gurren und Glucksen eines Kindes sofort als »Gesprächsaufforderung« verstanden werden muss.
Beobachten Sie das Baby eine Weile, lernen Sie schnell zu unterscheiden, ob es den Kontakt zu Ihnen oder einem Gegenstand aufnehmen will und suchend die Augen bewegt oder ob es in sich hineinhorcht, seiner Zunge und seiner eigenen Stimme zuhört.
Ein Baby orientiert sich zunächst stark an der Mimik und dem Stimmklang der Menschen in seiner Umgebung. Wenn Sie mit ihm sprechen, erzählen Sie ihm ruhig und freundlich, was Sie gerade tun, und benennen Sie die Gegenstände, die Sie und das Kind sehen können. An Ihrem Gesichtsausdruck und Ihrer Sprachmelodie merkt das Baby, ob es sich um eine sichere und entspannte oder um eine aufregende Situation handelt.
Durch Ihr Benennen der Dinge wird es in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres irgendwann ahnen, dass das runde, bunte Ding, dass Sie ihm immer wieder zeigen oder mit ihm gemeinsam rollen, wohl zu dem Geräusch »Ball« gehört. Denn immer, wenn dies runde, bunte Ding auftaucht, hört das Kind von Ihnen »Ball«. Oder es fängt, wenn es »Ball« hört und das Ding nicht sieht, mit Ihnen an, danach zu suchen, bis »Ball« gefunden ist. So versteht das Kind sein erstes Wort: »Ball«. Der Grundstein für Sprachverständnis ist gelegt.
Begleiten Sie also Ihre Handlungen sprachlich und benennen Sie die Gegenstände, mit denen Sie und ein Kind sich gerade beschäftigen. So kann das Kind sich Schritt für Schritt die Wörter zu den jeweiligen Gegenständen und Situationen erschließen und sein Sprachverständnis ausbauen.
Am Ende des ersten Lebensjahres produziert das Kind schon Silben und Geräuschketten wie »mamamama, dadadada, lalalalala«. Nun macht es eine weitere Entdeckung, nämlich: Bei einigen Äußerungen bricht große Freude bei seinem »Gesprächspartner« aus und bei anderen nicht. Bei der Silbenkette »bababa« freut sich der Vater, klatscht in die Hände und ruft: »Papa! Sie hat Papa gesagt!«
Kommt das Kind mit diesem Zaubertrick zur Mutter, löst es nicht so viel Begeisterung aus. Allerdings springt die Mutter bei »mamama« vor Freude beinahe an die Decke. So wird dem Kind allmählich klar, dass es Geräusche produzieren kann, die einer Person oder einem Gegenstand zugeordnet sind. Es kann sogar mit diesen ersten Wörtern Dinge herbeizaubern, die vorher nicht da waren. Zum Beispiel kann es »baba« rufen, wenn es den Vater nicht sieht – und schon erscheint er auf der Bildfläche. Der Grundstein für den Wortschatz ist gelegt. Um ihn zu erweitern und dem Kind dabei Unterstützung zu geben, gilt die oben genannte Empfehlung, das eigene Handeln sprachlich deutlich zu begleiten.
Die Entdeckung, dass es Sprache verstehen (Ball = rundes, buntes Ding) und auch selbst erwerben oder vielleicht besser: produzieren kann (Papa, Mama) motiviert ein Kind maximal. Es wird nicht eher aufhören, die Sprache zu erforschen, bis es das letzte knifflige Wort versteht.
www.bildungsserver.de
Viele Links zur Sprachentwicklung und Sprachförderung finden sich auf dem Deutschen Bildungsserver. Durchklicken über > Elementarbildung > Pädagogische Praxis > Sprachentwicklung systematisch begleiten.
www.schlaumaeuse.de
»Schlaumäuse – Kinder entdecken Sprache« orientiert sich am Konzept des Entfaltenden Lernens. Dieses Konzept wurde von Prof. Barbara Kochan und Diplom-Pädagogin Elke Schröter in der ComputerLernWerkstatt der Technischen Universität Berlin entwickelt.
www.projekt-fruehstart.de
Erzieherinnen in Kindergärten mit hohem Zuwandereranteil brauchen dringend Kenntnisse und Methoden, um Zuwandererkindern optimale Sprachförderung bieten zu können. »frühstart« möchte die Grundlage für erfolgreiche sprachliche Bildung im Kindergarten mit einem intensiven Fortbildungsprogramm für Erzieherinnen legen.
www.gfds.de
Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) ist eine politisch unabhängige Vereinigung zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Die GfdS hat sich zum Ziel gesetzt, die Sprachentwicklung kritisch zu beobachten und auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung Empfehlungen für den allgemeinen Sprachgebrauch zu geben.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/06 lesen.