Die Kunst hilft zu überleben. Drei Beispiele aus Palästina und dem Nahen Osten.
Das Qattan-Zentrum für das Kind (QCC) in Gaza
Das QCC wurde von einer privaten Stiftung gegründet und bietet eine Bibliothek mit 95.000 Büchern für und über Kinder, Eltern und Profis und viele kostenlose Aktivitäten an. Als das Zentrum im Jahr 2005 für die Öffentlichkeit eröffnet wurde, veranstalteten wir ein Konzert. Es war – zum ersten Mal in Gaza – ein Konzert für Kinder. Die Musiker waren keine Araber, sie spielten klassische Stücke von Mozart und Beethoven.
Diese Musik ist in Gaza nicht gerade das Übliche, sie unterscheidet sich völlig von der ägyptischen oder palästinensischen Musik, die bei den Leuten in Gaza beliebt ist. Da im Schulsystem kaum eine musikalische Bildung existiert, war das Personal im Qattan-Zentrum vor dem Konzert unsicher, wie die Kinder auf die klassische Musik reagieren würden. Sie würden möglicherweise nicht stillsitzen und zuhören, sie sind schließlich an diese Art Disziplin nicht gewöhnt.
200 Kinder kamen zum Konzert – und zwar schon lange vor Beginn, weil sie so aufgeregt waren. Wir konnten ihre Reaktion zuerst kaum fassen. Die meisten hatten noch nie in ihrem Leben eine musikalische Veranstaltung live erlebt. Trotzdem wurden sie ruhig, als einer der Musiker ihnen jedes Instrument erklärte. Sie hörten aufmerksam zu und reagierten wunderbar auf die Musik.
Im vergangenen Jahr wählte das QCC Musik und Kunst als Thema für seine Sommeraktivitäten. Wir konnten ein erstaunliches Paket verschiedener Aktivitäten anbieten, und die Kinder und ihre Eltern zeigten großes Interesse daran. Mehr als 11.000 Kinder kamen in jedem Monat zu unseren Veranstaltungen. Hanan, die Mutter von drei Kindern zwischen neun und zwölf Jahren, nahm an einem Kurs teil, der unter dem Titel »Lasst uns singen!« stand. Sie sagte: »Ich war sehr überrascht von den musikalischen Fähigkeiten und dem Wissen meiner Kinder, und ich habe gestaunt, wie begeistert sie jetzt von der Musik sind.«
Leider ist die Situation in Gaza gegenwärtig kaum zu beschreiben. Die Besetzung bedeutet, dass Familien die Grundlage für ihr Leben verloren haben und Gaza nicht verlassen dürfen. Der ganzen Bevölkerung drohen Einbrüche und Elektrizitätsmangel als kollektive Bestrafung. Doch selbst unter diesen Umständen träumen die Menschen in Gaza von einem normalen Leben und einer besseren Zukunft für ihre Kinder. Viele Leute träumen noch davon, eine Musikschule in Gaza zu haben, denn Musik ist ein Weg zum Frieden, oder, sagen wir, im gegenwärtigen Stadium ist sie ein Weg zum inneren Frieden für die Palästinenser.
Reem Jabr ist Direktor des Qattan-Zentrum für das Kind
www.qattanfoundation.org
Die Ramallah-Projekte: Musikalische Erziehung und Bildung in Palästina und im Nahen Osten
Daniel Barenboim und Edward Said, zwei Künstler und Intellektuelle, einer Israeli, der andere Palästinenser. Beide sind der Überzeugung, dass sie etwas zur musikalischen Entwicklung von Palästina beitragen sollten. Die Barenboim-Said-Stiftung startete ein musikalisches Bildungsprogramm in der Westbank. Ihr Hauptziel ist, eine nachhaltige Struktur für die musikalische Bildung zu fördern und zu entwickeln, ein Palästinensisches Jugendorchester zu gründen und zur Zunahme der musikalischen und künstlerischen Aktivitäten in der Region beizutragen.
Das Projekt konzentriert sich nicht nur auf die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. In individuellen Lektionen für kleine Gruppen von Schülern versuchen die Lehrer, die Konzentrationsfähigkeit und die motorischen Fertigkeiten der Kinder zu entwickeln. Während der Aktivitäten in Chor und Orchester wird der Teamarbeit und der offenen Diskussion besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Unterricht im Singen verbessert die linguistischen Fertigkeiten der Kinder. Regelmäßig finden Kammerkonzerte, jährliche Musik- und Orchesterworkshops und Austauschprojekte mit jungen europäischen Musikern, außerdem auch eine Zusammenarbeit mit ausländischen Musikakademien statt.
2006 eröffnete die Barenboim-Said-Stiftung ein Musikzentrum in Ramallah. Hier bieten die Lehrer Einzel- und Gruppenunterricht an Musikinstrumenten für etwa 100 Kinder aus Ramallah an. Die Stiftung hat mehrere Chöre in Dörfern bei Ramallah gegründet, in denen etwa 250 Kinder unterrichtet werden. Das ist eine Ergänzung zum Unterricht im Singen im Flüchtlingscamp von Balata bei Nablus. Lehrerbildungsprogramme werden angeboten, der Schwerpunkt liegt dabei auf der Musikerziehung. Palästinensische Kindergartenerzieherinnen nahmen im Frühjahr 2006 an Workshops in Nablus und Ramallah teil. Talentierte junge Musiker aus der Region werden dabei unterstützt, im Ausland zu studieren – in der Hoffnung, dass sie ihre Erfahrungen eines Tages nach Hause zurückbringen und zum Wachsen des palästinensischen Musik- und Kulturlebens beitragen werden.
Seit 2005 betreibt die Barenboim-Said-Stiftung Kammermusik- und Orchesterworkshops in Ramallah und Nazareth. Zweimal im Jahr kommen junge arabische Musiker aus Galiläa und junge arabische Musiker aus Palästina zusammen, um gemeinsam zu proben und aufzutreten. Diese Workshops bauen Brücken, die junge Palästinenser von beiden Seiten in die Lage versetzen, einander kennenzulernen und zusammenzuarbeiten.
Muna Khlefi ist Koordinator der Barenboim-Said-Stiftung in Ramallah
www.barenboim-said.org
»KINDER in Europa« im Gespräch mit Ramzi Abu Redwan
Ramzi Abu Redwan verbrachte seine Kindheit im Flüchtlingscamp Al-Amari, bevor er in Frankreich Musik studierte. Sein Traum, Musikschulen für palästinensische Kinder aufzubauen, und zwar besonders für die, die in Flüchtlingslagern leben, ist wahr geworden. Al Kamandjati, eine Non-Profit-Organisation, arbeitet in Flüchtlingslagern in der Westbank, dem Gazastreifen und im Südlibanon.
Wann und wie kam die Musik in Ihr Leben?
Als ich 17 war, ermutigte mich eine Freundin, Soreida Sabbagh, an einem Musikworkshop teilzunehmen, den ein palästinensischer Musiklehrer, Mohamad Fadel, in Zusammenarbeit mit dem Volkskunstzentrum organisiert hatte. Das war mein erster Kontakt mit der Musik und ich liebte sie gleich, besonders die Viola, die ich heute spiele.
Wie hat sich Ihr Interesse an Musik seitdem weiterentwickelt?
Nachdem ich den Workshop besucht hatte, wurde ich am Nationalen Edward-Said-Konservatorium für Musik eingeschrieben und begann, Viola zu spielen. Ich begann, sie zu lieben, ganz allmählich, und jetzt ist sie Teil meines Lebens. Ich entdeckte, wie Musik die Energie eines Kindes auf einen guten Weg leiten kann, indem sie seine Konzentrationsfähigkeit, seine Arbeit und Kreativität fördert.
Weil die Musik in mein Leben trat, als ich noch ein Kind war, verband ich sie mit meinem ganzen Leben und all meinen Aktivitäten. Ich tat das, weil ich erlebt hatte, wie die Musik mein Leben beeinflusst hat. Ich wollte versuchen, diese Erfahrung nicht nur für mich zu behalten, sondern sie an Kinder weiterzugeben, die dieselbe Kindheit erlebten, wie ich sie erlebt hatte.
Was tun Sie heute?
Heute arbeite ich in erster Linie als Musiker. Ich habe eine Gruppe gegründet, die Dalouna heißt und durch die Welt reist und Gastspiele gibt. Als Musiker nehme ich auch an verschiedenen Musikprojekten teil, nehme zum Beispiel klassische Musik auf und spiele in Orchestern.
Was kann Musik Ihrer Meinung nach Kindern bieten, die heute in Palästina leben?
Musik kann – ebenso wie jede andere Kunst – jedem Kind, das unter den Bedingungen der Besatzung lebt, dabei helfen, seine Menschlichkeit zu erleben. Musik ist ein Weg, die Kreativität, Phantasie und viele andere Fähigkeiten eines Menschen zu entwickeln. Musik ist also auch ein Weg für diese Kinder, selbstbewusster zu werden und ihre Persönlichkeit zu entwickeln und zu stärken. Musik ist – wie die anderen Künste – ein Weg, die Identität eines Menschen in der Situation der Besetzung zu bewahren, in einer Situation, in der alles dafür getan wird, sie auszulöschen.
Mehr Infos unter www.alkamandjati.com
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