Zirkuspädagogik als Instrument für Integration und Partizipation
Dass die klassischen Arbeitsbereiche wie Kita, Vorschule oder Hort nichts für ihn sind, bemerkte der Sozialpädagoge Alex Völker bereits während seiner Ausbildung zum Erzieher. Die Konzepte, Rahmenpläne und Aktivitäten empfand er stets als zu eng, bis er die Zirkuspädagogik kennenlernte und zum Thema seiner Bachelorarbeit machte.
In meiner Ausbildung zum Erzieher stand das nächste Praktikum an. Für meine Klassenkamerad:innen war schnell klar, in welchen Bereich sie reinschnuppern wollten. Leider traf das für mich nicht zu. Sollte es schon wieder eine Kita sein? Da war ich gefühlt schon oft genug gewesen. Ich hatte Glück und fand Rat bei meiner Lehrerin. Sie empfahl mich an einen Zirkus in der Nähe. Das warf für mich viele Fragen auf. Zirkus und Pädagogik? Noch nie gehört. Und was soll ich da überhaupt? Genau diese Unwissenheit war es, die mich zur Bewerbung um einen Praktikumsplatz bewegte. Gesagt, getan, und prompt stand meine erste Praktikumswoche vor der Tür. Ich hatte keine Ahnung, dass mich dieses Praktikum in meiner pädagogischen Arbeit maßgeblich prägen würde. Am Anfang begeisterte mich, was die Kinder alles schon können. Vor mir standen Jungen und Mädchen, die mit einer Leichtigkeit mit drei Bällen jonglierten und auf Kugeln balancierten, die doppelt so groß waren wie sie selbst. Und dann war ich da, der nur mit Müh und Not zwei Bälle gleichzeitig in der Luft halten konnte. Das war mir unangenehm. Aber die Kinder gaben mir keinen Anlass dafür, mich deswegen fehl am Platz zu fühlen. Sie fingen an, mir Tipps zu geben, und schon nach kurzer Zeit gelangen mir erste einfache Tricks. Wir trainierten so oft wie möglich zusammen.
Genau richtig
In meinem Praktikum machte ich exakt jene Erfahrungen, wie sie von Nicole Busse1 2007 in »Der Kinder- und Jugendzirkus als erlebnispädagogischer Lern- und Erfahrungsort«, 2013 von Lisa Johanning in »Jungenförderung durch Zirkuspädagogik: Eine qualitative Studie zur Bedeutung von Ausdruck und Präsentation für männliche Jugendliche« und 2014 von Fabian Jung in »Gruppendynamik in der Zirkuspädagogik. Eine Studie zu den gruppendynamischen Veränderungen während eines zirkuspädagogischen Schulprojekts« beschrieben wurden. Diese drei Publikationen erwiesen sich zusammen mit »Bildung und Zirkus: Eine Studie anhand von ExpertInneninterviews« des Spiel- und Theaterpädagogen Jörn Killinger von 2007 für meine Bachelorarbeit nicht nur als die wichtigsten, sondern als vier der nach wie vor rar gesäten wissenschaftlichen Arbeiten zur Zirkuspädagogik überhaupt. Durch sie erfuhr ich, dass die Anfänge des Zirkus in das 3. Jahrtausend vor Christus reichen und Zirkus als pädagogisches Instrument in der Erlebnispädagogik verortet wird. Erste Berichte über angewandte Zirkuspädagogik findet man nach Killinger in der Arbeit des US-amerikanischen Geistlichen Edward Flanagan. In der von ihm gegründeten, bereits seinerzeit legendären Jugendhilfeeinrichtung »Boys Town« Anfang des 20. Jahrhunderts nutzte er die Zirkuskünste, um Straßenkindern eine sinnvolle Beschäftigung zu geben. Nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere mit zunehmender Verbreitung des Fernsehens, musste sich der Zirkus neu erfinden. Der Fokus wandelte sich von der Präsentation immer schnellerer, lauterer und noch nie dagewesener Leistungen auf eine attraktive Gesamtpräsentation, die das Erleben des Publikums in den Vordergrund stellt. In dieser neuen Art von Zirkus bekamen Kunst oder auch Poesie und damit auch Künstler:innen aus weniger zirkustypischen Bereichen Raum.2
Gemeinschaft
Meine erste Woche war geprägt von schweißtreibendem Training. Gerade noch war mir die Zirkusgemeinschaft fremd, und schon war ich ein Teil von ihr. Ein Teil einer Gemeinschaft, in der das Miteinander wichtiger war als das, was man mitbringt. Eine Gemeinschaft, die für jede:n einen Platz hat. Ich lernte unterschiedlichste Menschen kennen und durfte mit großen und kleinen Zirkusartist:innen gemeinsam trainieren. Zum ersten Mal konnte ich Integration praktisch erleben. Es dauerte nicht lange und mein erstes größeres Zirkusprojekt stand an. Geplant war eine Woche voller Training mit abschließender Vorstellung an der örtlichen Förderschule. Die Kinder konnten aus insgesamt sechs Disziplinen selbst entscheiden, welche sie in der Woche näher kennenlernen wollten. In den einzelnen Gruppen kamen Kinder aus allen Klassenstufen zusammen, die vorher meist gar nichts miteinander zu tun hatten. Der erste Tag diente dem Schnuppern und Sich Ausprobieren. Die Kinder machten sich miteinander bekannt und stellten fest, dass sie allenfalls die Basics können, sich dafür aber überhaupt nicht schämen müssen. In kurzer Zeit lernten sich die Kinder besser kennen. Sie trainierten gemeinsam und unterstützen sich gegenseitig. Es kam selten vor, dass jemand ausgelacht wurde, da alle wussten, wie schwer es sein kann, noch so leicht aussehende Tricks zu erlernen. Damit sich die Kinder mit ihrem Auftritt identifizieren, nahm ich mich bei der Ideenfindung zurück und öffnete den Raum für ihre Kreativität. Sie brachten begeistert ihre Ideen ein, und ich verstand, wie wichtig Partizipation für junge Menschen wie sie ist.
Begegnung
Die Recherchen für meine Bachelorarbeit bestätigten meinen subjektiven Eindruck von Zirkus als einem Ort für eine Gemeinschaft, die unabhängig von finanziellen oder kulturellen Hintergründen entsteht. Damit dies gelingt, müssen die benötigten Materialien kostengünstig sein oder von der Projektleitung gestellt werden. Die Tricks können sich die Teilnehmenden selbst ausdenken, auswählen oder so anpassen, dass sie ihrem motorischen und/oder kognitiven Entwicklungsstand entsprechen. Selbst das Hochwerfen und Fangen eines einzigen Jonglierballes kann einen Trick darstellen. Indem Erfahrenere den neuen Kindern und Jugendlichen das Basiswissen ihrer Disziplin vermitteln, ist sichergestellt, dass es passend zu deren Bedürfnissen und verständlich zu deren Vorwissen vermittelt wird. Durch diese Form der Integration kann eine Bindung zwischen den Akteur:innen, eine erlebte Gemeinschaft und somit – spielerisch – Sozialintegration3 stattfinden. Meine eigenen wie auch meine Literaturrecherchen zeigen – vorausgesetzt, die Teilnahme erfordert keine finanziellen Mittel –, dass zirkuspädagogische Arbeit die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen aus wirtschaftlich ärmer angesehenen Familien verringert. Abgesehen vom Interesse, zählen beim Zirkus die inneren Werte und nicht die materiellen oder finanziellen Mittel. Die gemeinsame Arbeit an Tricks oder Shows bringt unterschiedliche Schichten miteinander in Kontakt. Durch die Interaktion findet Begegnung statt. Gegenseitige Vorurteile werden abgebaut.
Alex Völker ist Sozialpädagoge und leidenschaftlicher Zirkustrainer. Während seines Studiums sammelte er erste Erfahrungen im zirkuspädagogischen Bereich bei einem ortsansässigen Zirkusverein. Dort konnte er unterschiedliche Projekte mitgestalten und großartige Shows auf die Beine stellen.
Kontakt
1 Teile von Nicole Busses Publikation »Der Kinder- und Jugendzirkus als erlebnispädagogischer Lern- und Erfahrungsort« von 2007 steht auf https://ziel-verlag.de/wp-content/uploads/2022/10/ZIEL-Verlag_Der-Kinder-und-Jugendzirkus_Blick-ins-Buch.pdf (09.11.24) als Download zur Verfügung und eine hilfreiche Rezension auf www.socialnet.de/rezensionen/6818.php (09.11.24)
2 Vgl. Killinger J. (2012): Bildung und Zirkus: Eine Studie anhand von ExpertInneninterviews, AV Akademikerverlag, S. 9-12
3 Meiner Fragestellung, ob und wie Partzipation in Zirkusprojekten gelingt, legte ich die Ausarbeitungen von Hartmut Esser zugrunde. Seine 2001 erschienene Publikation »Integration und ethnische Schichtung« ist vollständig und kostenfrei auf https://www.mzes.uni-mannheim.de/publications/wp/wp-40.pdf (09.11.24) abrufbar.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2024 lesen.