Das Fenster als Wahrnehmungs-, Spiel- und Gestaltungsanlass
Wie Bilder, so entführen auch Fenster unsere Blicke in eine andere Welt. Als gerahmte Öffnungen laden sie zum Schauen, Betrachten und Beobachten ein. Die Kunstpädagogin Petra Kathke beschreibt, wie Kinder sich über spielerische Wahrnehmungs- und Gestaltungsaktivitäten die Schnittstelle zwischen Drinnen und Draußen performativ, bildnerisch und raumbezogen erschließen.
Jedes Fenster öffnet ein Gebäude. Wie ein Loch in der Wand verbindet es zwei Bereiche unterschiedlicher Zugehörigkeit: Drinnen und Draußen. Meist treffen sich beide an der Schnittstelle einer transparenten Glasscheibe, die sie voneinander trennt. In welche Richtung wir blicken, bestimmt unser jeweiliger Standort. Ob wir aus einem geschützten Raum heraus- oder in eine mehr oder weniger private Welt hineinschauen – letztlich bahnt jedes Fenster den Blicken einen Weg, weil sich der überwiegend rechteckige Ausschnitt immer auch als Rahmen darbietet. Dieser kann mehrfach untergliedert sein. Fenster belichten also nicht nur den Innenraum und erfüllen mancherlei andere Funktionen. Sie rahmen das visuell Wahrnehmbare auf unterschiedliche Weise.
Wandöffnungen in Form von Fenstern wurden in den letzten Jahrhunderten architektonisch hochgradig ausdifferenziert. An ihnen lassen sich kultur- und kunstgeschichtliche Entwicklungen ebenso nachzeichnen wie kunsttheoretische Positionen, denn auch unsere alltäglichen Erfahrungen mit rahmenden Fensteröffnungen verweisen auf grundsätzliche Fragen bildhafter Repräsentation. Das rührt daher, dass Fenster gleichwie Bilder etwas zur Schau stellen, dass sie mehr oder weniger inszenierte Blickerlebnisse bieten. Folglich werden an ihnen nach wie vor kunst-, bild- und medienwissenschaftliche Fragen aus theoretisch-vergleichender Perspektive verhandelt.
Was aber macht das alltägliche Fenster zum lohnenden Motiv für ästhetisch-künstlerisches Lernen von Vor- und Grundschulkindern? Wie lässt sich sein anregendes Potenzial mit Blick auf das für Kinder faszinierende Wechselspiel von Verbergen und Erscheinen für die gestalterische Praxis ausschöpfen? Als bauliches Objekt wie als bildnerisches Motiv bietet jedes Fenster vielfältige Anregungen für individuelle und gemeinsame gestalterische Aktivitäten. Dabei spielt das bewusste Sehen im Sinne visuellen Wahrnehmens eine wichtige Rolle, führt doch der inszenierte Blick über die körperliche Alltagserfahrung hinaus zu Eindrücken und Erkenntnissen, die denen des Bilderlebens verwandt sind. So wie ein Fenster öffnet auch das Bild unseren Blicken einen Wahrnehmungsraum. Kinder kennen überraschende Blickerlebnisse vom Adventskalender, der Bilder in Fenstern mit dem Vergehen der Zeit verbindet. Ausgehend von solchen Erfahrungen visuellen Entdeckens, lässt sich ein Bogen zum Bilderleben im analogen und medialen Bereich spannen. Denn die Rolle des Fensters, das in unbekannte und überraschende Welten führt, übernimmt heute vor allem das Display digitaler Endgeräte.
Der gerahmte Blick in die Welt
Nebentatsächlichen Bilder- oder Fensterrahmen können einfache, aus weißem Karton geschnittene Rahmen helfen, unser Sehen zu fokussieren, indem sie ein Blickfeld aus seinem Umfeld »herausschneiden«. Mit Passepartouts unterschiedlicher Größe – vom Briefmarken- bis zum DIN-A4-Format – werden Kinder zur Bildersuche angeregt, draußen wie drinnen. Anders als das Display einer Kamera, erlaubt es der flexible Rahmen, spielerisch Einblicke, Durchblicke und Ausblicke zu inszenieren, um Blickwechsel als Folge bewussten Sehens spielerisch zu erleben. Wohin leitet der Rahmen unsere Augen auf dem Spaziergang? Welche Gege- benheiten ermöglichen den Einblick (ich draußen), welche den Ausblick (ich drinnen)? Worin unterscheidet sich die gerahmte Nahsicht auf die Rindenstruktur eines Baumes von der Fernsicht in seine Krone? Beim Positionieren der Rahmen beziehen sich Kinder auf jenen Raum, in dem sie sich körperlich bewegen. Als Akteure praktizieren sie Blickwechsel, behalten neben dem variablen Bildausschnitt aber auch die Umgebung im Auge oder können sogar selbst ins Blickfeld geraten.
Vertraut mit Bildschirmen aller Art, erfahren Kinder beim Positionieren ihres Passepartouts lebensraumbezogene Zusammenhänge zwischen klein und groß, nah und fern, hier und dort auf körperlich aktive Weise. Und sie entdecken dabei, dass Gerahmtes anders erscheint als Ungerahmtes: Es wird ein Bild, das zum Betrachten auffordert, wobei im Spannungsfeld des Rahmenrechtecks alles Sichtbare in Beziehung zueinander tritt. An der fleckigen Wand oder auf dem Mosaik des Steinbodens verändert bereits eine leichte Verschiebung des Rahmens das sich darbietende Bild. Oft lässt es fantasievolle, assoziative Ausdeutungen zu. Gesichter etwa entdecken wir fast überall.
Wir erfinden Geschichten bildnerischen Verbergens und Erscheinens und werden durch die Ameise, die in ihrem Loch verschwindet, das Wasser, das in den Gully fließt, oder die Frau, die uns aus ihrem Auto zuwinkt, auf Verbindungen zwischen Außen und Innen aufmerksam. Die Größenverhältnisse wechseln dabei ständig. Und es gibt auch bereits vorhandene Blickfenster, die uns als Zäune, Hecken oder Schlüssellöcher außen vor lassen und gerade deshalb zum Durch- spähen verführen. Ihr kleines Blickfeld belässt im Verborgenen, was imaginativ ergänzt werden kann.
Vom vorgefundenen Bild zum Fensteraus- oder Fenstereinblick
Mit zwei aus weißem Karton zugeschnittenen Winkeln oder einem Passepartout können wir nicht nur im vertrauten Umfeld, sondern auch innerhalb von Bilddrucken aller Art auf Bildersuche gehen. Was erscheint den Kindern auf dem Foto, dem Kalenderblatt oder der Illustration besonders wichtig? Markiert das Passepartout einen Aus- oder Einblick? Die beweglichen Winkel erlauben es, Bildgrenzen nach eigenem Ermessen zu verschieben. Dabei rücken die Motive zugleich ein Stück weit in die Ferne, denn wie ein Fenster weist jeder Rahmen den Betrachtenden einen Standpunkt außerhalb des Bildfeldes zu. So gerät der nahe Innenraum in Kontrast zum fernen Außenraum. Ihre gesetzten Rahmen können die Kinder direkt auf das Bild malen. Versehen mit Verstrebungen oder Griffen, werden sie zu Fenstern, durch die wir auf unsere Bildausschnitte blicken. Die Älteren wählen ungewöhnliche Fensterformen und gestalten sie weiter aus: Verhindern Vorhänge die Sicht nach draußen? Wird der Ausblick durch eine Jalousie in Scheiben geschnitten? Stehen Gegenstände auf der Fensterbank, die die Sicht behindern? Was geschieht, wenn es regnet oder die Scheibe mit einer Eisschicht bedeckt ist? Wie lässt sich dieser Eindruck im Bild erzeugen? Wer oder was könnte sich im Fenster spiegeln und damit indirekt Teil des Ausblicks werden? Gibt es auch runde Fenster? Sollten Tablets zur Verfügung stehen, können die Älteren selbst Fotos machen und das Suchen eines Ausschnitts sowie das Einblenden eines Rahmens digital erproben.
Petra Kathke, Professorin für Kunstpädagogik a.D. zuletzt an der Universität Bielefeld und Autorin des Buches »Sinn und Eigensinn des Materials«, führte 20 Jahre eine Kinderkunstwerkstatt in Berlin, bevor sie nach der Promotion in die universitäre Lehrer:innenbildung wechselte. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Praxis künstlerischen Lernens und Lehrens sowie Grundlagen ästhetischer Bildungsprozesse.
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Bilder: Petra Kathke
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2023 lesen.