Pädagogischer Zugang zu Gesundheitsfragen von Kindern
Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens« – so lautet die vielzitierte Definition von Gesundheit der WHO (von 1946). Es geht also um den Menschen als Ganzen.
Das entspricht auch unserem Alltagsverständnis: Wenn ich traurig bin, geht es mir nicht gut und wenn das lange andauert, kann ich davon krank werden. Diese Erkenntnis war damals neu und scheint es heute immer noch zu sein, besonders wenn es darum geht, dass jemand krank ist und nicht am normalen Ablauf in Kita, Schule oder Arbeitswelt teilnehmen kann. Anerkannt krank ist z.B. ein Kind, wenn es Schnupfen oder andere Krankheiten hat. Ist es traurig oder fühlt es sich in einer bestimmten Konstellation nicht wohl (soziales Wohlbefinden), geht man in der Regel davon aus, dass das Kind sich mit der Situation abfinden muss oder wird und daraus lernt. Für alle arbeitenden Eltern ist das sicher auch besser so …
Folgendes Beispiel zeigt, wie es anders gehen kann:
Ein Junge (2 1/2 Jahre, mit albanischer Sprache in der Familie) kann sich im Kitaalltag manchmal nicht gut verständigen. Er redet wenig deutsch, zum Teil spricht er auch undeutlich. An einem Tag ist er ab dem späten Vormittag ohne für die PädagogInnen ersichtlichen Grund traurig, er weint und mag nicht mit den anderen Kindern spielen. Die Pädagogin, die ihn am besten kennt, versucht herauszufinden, was los ist. Sie fragt immer wieder, aber sie versteht nicht, was er ihr sagen will und kann den Grund für seine Traurigkeit nicht finden. Sie sucht nach äußerlichen Krankheitsmerkmalen, findet aber nichts, was auf ein körperliches Unwohlsein hindeutet. Mit viel Respekt vor diesem Gesundheitszustand des Jungen entscheidet der Kitaleiter, die Mutter anzurufen und das Kind abholen zu lassen. In dem Telefonat fragt sie, was der Junge habe, und der Leiter antwortet: »Wir können es nicht sagen, er hat soweit wir sehen keine körperlichen Beschwerden, aber es geht ihm nicht gut und wir können ihn nicht auffangen.« Nach ein paar Tagen kommt der Junge wieder froh und zufrieden in den Kindergarten.
Die PädagogInnen in diesem Beispiel haben beachtet, dass gesund sein nicht nur körperliche Gesundheit bedeutet, und ihnen gebührt großer Respekt davor, dass sie selbst erkannten, dass dieses Kind in dem Moment in ihrer Ob-hut nicht mehr gut aufgehoben war. Der Junge konnte so erleben, dass seine Empfindungen und Bedürfnisse ernstgenommen wurden. Das geht vielleicht nicht immer, weil Eltern arbeiten müssen oder PädagogInnen Stimmungen von Kindern anders einschätzen. Das Beispiel kann uns aber in unserem Verständnis der Wahrnehmung von Bedürfnissen der Kinder leiten. Gesundheitsbewusstes Handeln im Sinne der ganzheitlichen Definition von Gesundheit hängt also ganz eng mit unserem pädagogischen Handeln zusammen.
Gesundheit und Bildung zusammen denken
In einem Forschungsprojekt zu Gesundheits- und Bildungszielen in Berlin-Neukölln haben wir uns intensiv mit den Themenfeldern auseinandergesetzt und die Sichtweisen von PädagogInnen, Eltern, Kindern und weiteren Akteuren herausgearbeitet und gegenübergestellt.
Dabei wurde – genau wie in unseren Ausführungen oben – der Anspruch formuliert, dass Gesundheit und Bildung gut zusammengedacht und Kinder in einem salutogenetischen Grundverständnis in ihrer Entwicklung unterstützt und begleitet werden. Die Kita kann so dafür sorgen, dass Kinder gesundheitsbewusstes Handeln entwickeln. Damit orientiert sich die Einstellung der PädagogInnen am Berliner Bildungsprogramm: Bildung und Gesundheit werden dort in doppeltem Sinne zusammengedacht: Kinder, die sich wohl fühlen, können offen auf Bildungsgelegenheiten zugehen. Diese Bildungsgelegenheiten wiederum ermöglichen Kindern, ein Gefühl und Bewusstsein für die Zusammenhänge ihrer Lebenswelt zu entwickeln (Kohärenzgefühl). Als Appell und Zielvorstellung und in den theoretischen Ausführungen herrscht hier durchaus Einigkeit.
In der praktischen Umsetzung finden sich allerdings erhebliche Unstimmigkeiten oder Unklarheiten, wie Gesundheit und Bildung miteinander verbunden werden können. Das Verständnis von Gesundheit erscheint in unserer Gesellschaft wenig vereinheitlicht. In unserem persönlichen Alltagshandeln merken wir das immer wieder. Zum Beispiel:
Eine Familie findet es richtig, dass Kinder ein gutes Verhältnis zu ihren Ernährungsbedürfnissen haben und diesen nachkommen können, ohne dass sie reglementiert werden. Das heißt, dass die Kinder selbstbestimmten Zugang zu Süßigkeiten haben, Obst oder Gemüse nur essen, wenn sie es möchten. Eine andere Familie nimmt anders Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten der Kinder. Sie halten Zucker soweit es geht fern, stellen zu Hause ausschließlich biologisch angebaute Lebensmittel und keine Convenience-Produkte zur Verfügung. Die Kinder können sich an Obst und Gemüse oder den Mahlzeiten satt essen, dazwischen gibt es nichts. Beide Familien leben zufrieden und gesund und sind überzeugt von ihrer Vorgehensweise.
Familienkulturen sind unterschiedlich – und in unserem pädagogischen Auseinandersetzen mit Respekt, Vielfalt und Inklusion sollten diese unterschiedlichen Herangehensweisen an Gesundheit und in diesem Beispiel an Ernährung respektiert werden. Problematisch wird es dann, wenn »gesunde Ernährung« so zum Thema gemacht wird, dass die Kinder mit einer Reihe von Postulaten über Ernährung konfrontiert werden, die sie im Alltag ständig brechen. Dann geht der Respekt vor den verschiedenen familientypischen Konzepten zur Ernährung verloren und es wird dann oft ein ziemlich einseitiges Bild von gesunder Ernährung transportiert, in dem Eis, Kuchen oder Pommes frittes als ungesund bezeichnet und die familiären Gewohnheiten in Frage gestellt werden. Außerdem beruhen diese Postulate leider oft auf einem ungenauen Wissen, eigenen Erkenntnissen oder Alltagserfahrungen der PädagogInnen. Insgesamt erleben die Kinder dabei ein diffuses Bild von gesunder Ernährung, denn oft werden die aufgestellten Regeln schon in der Kita gebrochen, wenn es z.B. einen Nutella-Frühstückstag in der Woche gibt, jeden Mittag Nachtisch gereicht wird etc.
Gesundheit und Bildung funktionieren also oft nicht gut zusammen, weil
- es nicht nur den einen »richtigen« Weg für gesundes Verhalten und gesunde Ernährung gibt,
- Grundwerte von Respekt vor Familienkulturen und Handlungsweisen durch rigide Ernährungsvorstellungen der PädagogInnen behindert werden,
- die Kinder inkongruente Botschaften bekommen, was gesunde Ernährung ist oder nicht, bzw. wo man Ausnahmen machen kann und wo nicht,
- gesundheitsbewusstes Handeln in der Theorie nicht viel mit dem Erleben der Kinder in ihren Familien zu tun hat,
- gesundheitsbewusste Ratgeber bestimmte Vorgehensweisen und Verhaltensweisen vorgeben und trainieren wollen – was unserem partizipativen und ko-konstruktiven Bildungsverständnis widerspricht.
- Unsere Forschungen haben gezeigt, dass genau in dem letzten Punkt eine Stellschraube besteht, mit der wir pädagogische Praxis auch in Gesundheitsthemen und in der Förderung von Gesundheitshandeln weiterentwickeln können – und müssen, damit wir den Kindern gerecht werden.
Katrin Macha arbeitet am Institut für den Situationsansatz in der Internationalen Akademie Berlin gGmbH.
Milena Hiller ist tätig am Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung in der Internationalen Akademie Berlin gGmbH.
Kontakt
www.situationsansatz.de und www.beki-qualitaet.de
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/15 lesen.