Ein großformatiges Blatt Papier, Zeit, Spaß an der Beobachtung und das Glück, den Fotoapparat dabei zu haben. Als Großmutter gelingt es mir öfter, solche wunderbaren Augenblicke mit den Enkeln einzufangen.
Hugo nimmt mein Angebot an: ein großes Stück Papier und ein schwarzer, dicker Edding. Ein Auto, eine Feuerwehr, ein Taxi und ein Krankenwagen hinterlassen Spuren, erst in gemäßigtem Tempo, dann rasant. Er kommentiert laut, begleitet die Gefährte geräuschvoll und wiederholt das unermüdlich. Von A nach B fährt er in schwungvollen Bögen, kreist auf der Stelle, beschleunigt das Verfahren manchmal, schiebt sich mit dem ganzen Körper über das Papier, vervollständigt Leerstellen, kniet, spreizt die Beine, schnellt vor und zurück. Plötzlich ruft er etwas von S-Bahn und seinem Freund Benni, der hier wohnt, dann fährt er zur Kita und von dort nach Hause. Da ist ein Parkplatz und hier die Polizei.
Er greift zu verschiedenen Stiften, weil die Feuerwehr rot ist. Während er »Tatütata!« ruft, wird der Strich dichter und knäuelt sich. Dann nimmt er einen Stift in jede Hand, legt zweihändig los, wechselt das Material und wählt den dicken Grafitstift. Mit Begeisterung schrubbt er ihn über die Fläche. Dabei werden auch seine Hände schwarzgrau. Verwundert betrachtet er sie, und nach einer nachdenklichen Pause wischt er sie an der Hose ab.
Seine ältere Schwester Johanna verfolgt sein Treiben und mischt sich nach einer Weile in sein Linienspiel ein. Sie malt kleine Häuser dazu, in denen Hu-gos Freunde wohnen, und zeichnet die Schienen der S-Bahn. Auch die Waggons werden sichtbar, und ein kleiner Automat für die Fahrkarten darf auf dem Bahnsteig nicht fehlen.
Beim Malen verständigen sich Schwester und Bruder nur über das Nötigste, denn Hugo hat noch seine eigene Sprache. Sie werfen sich Wörter und Begriffe zu, die das Kurvengewirr vervollständigen. Da der Papierbogen so groß ist, kommen sie sich nicht ins Gehege. Zufrieden betrachten sie schließlich ihre lange Bild-Geschichte.
Das Kunstwerk wird aufgehängt, und Johanna schreibt Hugos und ihren Namen in eine Ecke des Bildes. Wäre ich nicht dabei gewesen, hätte ich die Geschichte, die das Bild erzählt, wahrscheinlich nicht erfahren. Oder nicht verstanden. Wer weiß?
Dagmar Arzenbacher
Schuppen 9
Fortbildungsstätte für Erzieherinnen
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