oder – Der dritte Lernort
Die neuen Medien sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Dennoch werden ihre Möglichkeiten in der Frühpädagogik kaum genutzt, findet Michael Kobbeloer. Der Autor räumt mit diversen Mythen auf. Drei dieser Märchen werden im folgenden Beitrag ad absurdum geführt.
Hinter meinem Gartenzaun steht ein Kletterbaum. Dort saßen neulich drei Kinder im Kindergartenalter und surften mit einem Smartphone im Internet. Sie klickten sich durch die Seiten, und ich hörte: »Youtube, oh, ah, igitt, cool! Mach das weg…« Kein Schutz, keine Reflexion des Gesehenen.
Zwar gibt es viele Möglichkeiten, den Umgang mit neuen Medien zu erlernen, doch meistens läuft es wie eben beschrieben ab. Medienkompetenz entwickelt sich auf diese Weise eher nicht. Kein Wunder, dass jeder siebente Weltbürger Facebook völlig unreflektiert nutzt.
Neue Medien stehen in der gesellschaftlichen Bedeutung und Vermarktung zwar an erster Stelle. In der Pädagogik stehen sie aber an letzter Stelle – eine Diskrepanz, die kein Pädagoge wirklich begründen kann.
Bereiten wir unsere Kinder auf eine medienfreie Welt vor, die es nicht mehr gibt? Woran liegt es, dass wir neue Medien zwar täglich zunehmend nutzen, aber offensichtlich nicht bereit sind, medienpädagogische Kompetenzen zu erwerben und zu vermitteln? Haben wir Angst vor der Selbstreflexion? Angst davor, erkennen zu müssen, dass wir diese Medien selbst unreflektiert und inkompetent nutzen?
Das Problem sind nicht die Medien, sondern das, was wir damit machen.
Mythos 1: Kindergartenkinder nutzen neue Medien nicht
»Mythen erheben einen Anspruch auf Geltung für die von ihnen behauptete Wahrheit«, steht bei Wikipedia. Ein moderner Mythos ist, dass Kinder im Kindergartenalter neue Medien – also alle Medien, die einen Zugang zum Internet ermöglichen – nicht nutzen. Diese Annahme dient Erzieherinnen, Fortbildnerinnen und Lehrkräfte in der Ausbildung nicht selten als Begründung, um um das Thema einen großen Bogen zu machen. Tatsache ist jedoch: Immer mehr und immer jüngere Kinder nutzen Computer und Internet – laut einer Forsa-Studie aus dem Jahr 2011 mehr als ein Drittel der drei- bis fünfjährigen Kinder. Obwohl fast alle Eltern Kinderschutzsoftware als sinnvoll ansehen – nur jedes zehnte Elternpaar, vorwiegend gut ausgebildete Mütter und Väter, setzt sie ein.
Inzwischen sind die neuen Medien in nahezu allen Haushalten vertreten, in denen Kinder aufwachsen. In einer Studie von Six und Gimmler wiesen Erzieherinnen darauf hin, es gebe überhaupt keine positiven Wirkungen dieser Medienpräsenz.1 Ihre eigene Kompetenz und die Bedeutung von Medienkompetenz in der Ausbildung weisen in eine vergleichbare Richtung.
Die bekannten Altersfreigaben der FSK und USK greifen bei den neuen Medien nicht. Früher war es einem Kindergartenkind nahezu unmöglich, Zugang zu kinder- und jugendgefährdenden Filmen, Software und anderen Medien zu erhalten. Kein Mensch hätte sie ihnen ausgeliehen. Im Netz hingegen gibt es keine Kontrolle. Auch ohne gezielt zu suchen oder durch fehlerhafte Eingaben, die einem Kindergartenkind aufgrund mangelnder Schreibkompetenz unterlaufen können, gelangen Kinder auf Seiten, die sie gefährden, und die Erwachsenen stehen machtlos – besser: kompetenzlos – daneben. Experten schätzen, dass trotz Altersbeschränkungen und Verboten weltweit 5 Millionen Kinder unter zehn Jahren über eine falsche Altersangabe bei Facebook angemeldet sind und dass rund ein Drittel der Eltern dies weiß, zum Teil sogar unterstützt. Das weltweit größte soziale Netzwerk, das inzwischen schon knapp 1 Milliarde Nutzer hat – bei einer Weltbevölkerung von rund 7 Milliarden Menschen – plant übrigens, den Zugang für Kinder unter 13 Jahren jetzt auch offiziell zu realisieren. Wie ist die pädagogische Zunft darauf vorbereitet? Gar nicht!
Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert, dem Wunsch der Kinder nach Teilhabe an sozialen Netzwerken mit Medienkompetenz zu begegnen, und hat erkannt, dass Verbote nichts bringen. Kindgerechte Angebote im Netz wie »internauten.de« oder »clipklapp.de« bieten Kindern einen ersten Einstieg in diese Welt – redaktionell betreut, geschützt und werbefrei. Aber welche Erzieherin, welcher Grundschullehrer kennt diese Angebote?
Smartphones, Tablet-PCs, Navigationssysteme und Bordcomputer sind oder werden in naher Zukunft internetfähig sein: Nahrung für die Horrorvision von den »Cyberkids«. Der meist kommunikationstechnisch-funktionale Kompetenzvorsprung der jungen Generation lässt das Bild von rund um die Uhr surfenden Kindern und Jugendlichen entstehen, die unter emotionaler und sozialer Vereinsamung leiden. Empirische Studien wie die des Deutschen Jugendinstituts zeigen hingegen deutlich, dass dieses Bild nicht stimmt: Kinder, die sich für das Internet interessieren, sind nach außen orientiert, engagieren sich in Vereinen, bewegen sich viel und haben auch an anderen Dingen Interesse – egal übrigens, welcher sozialen und Bildungsschicht sie entstammen.2 Diese Kinder sind die erste Generation, die mit den neuen Medien selbstverständlich aufwächst und sie nicht als Gefahr, sondern als Chance begreift. Pädagogisch professionelles Handeln muss sich dieser Tatsache bewusst sein, wenn der gesellschaftliche Erziehungsauftrag erfüllt werden und das Klientel dort abgeholt werden soll, wo es steht – also auch im Netz.
Zwar kritisieren einige Wissenschaftler die kindliche Mediennutzung immer wieder, aber die von Manfred Spitzer geforderte »bewahrpädagogische Haltung«3 gegenüber neuen Medien verspricht keinen Erfolg. »Um es nun gleich vorweg zu sagen: Ich bin nicht dafür, dass Kinder in den Medien Gewalt sehen. Ich bin sehr dafür, dass Kinder genügend Platz für bewegungsintensive Spiele haben, ich bin sehr dafür, Kindern ein abwechslungsreiches Bildungsangebot (mit und ohne Medien) zu bieten. Ich verbürge mich dafür, Medienkompetenz und einen vernünftigen Medienumgang in all meinen pädagogischen Aktivitäten zu vermitteln«, schreibt Norbert Neuß in seiner fundierten und empfehlenswerten Auseinandersetzung mit den Thesen von Spitzer.4
Mit Hirnforschern, die sich inzwischen nahezu jedem gesellschaftlichen Problem widmen, setzt sich auch Stephan Schleim in seinem Buch »Die Neurogesellschaft« auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass die Hirnforschung die komplexe Interaktion eines Menschen in seiner sozio-kulturellen Lebenswelt häufig vergisst und somit ein sehr reduziertes Bild vom Menschen zeichnet.5 Wir sind mehr als unser Gehirn, mehr als die Summe unserer neuronalen Verschaltungen, und wenn sie den sozialen Kontext negieren, bieten neurowissenschaftliche Erkenntnisse keinerlei Ansätze für die Lösung von Problemen. Schleim fasst zusammen: »Es ist jedenfalls höchste Zeit, die Neuro-Autorität mancher Hirnforscher kritisch zu hinterfragen – über die dafür notwendigen Fähigkeiten verfügen wir zum Glück auch ohne Gehirnjogging.«6
Auf die Frage der Folgen von Mediennutzung kann die Hirnforschung zwar antworten, doch eine pädagogische Lösung bedarf der kritischen Reflexion aus medienpädagogischer Sicht. Pädagogische Konzepte lassen sich nicht aus Befunden der Hirnforschung ableiten.
www.internauten.de
Internauten.de enthält alle wesentlichen Informationen zum sicheren Umgang mit dem Internet. Zahlreiche Comics, Spiele und Simulationen ermöglichen es, den Umgang mit dem Medium Internet spielerisch zu erlernen. Mit der Initiative unterstützen das Deutsche Kinderhilfswerk, die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter und Microsoft Deutschland Kinder, Erzieherinnen, Lehrkräfte und Eltern dabei, ein starkes Bewusstsein für Sicherheit zu fördern und die Privatsphäre bei der Nutzung neuer Medien zu schützen.
www.clipklapp.de
ClipKlapp, ein Videoportal des Deutschen Kinderhilfswerks e.V., vermittelt Kindern im Alter von acht bis zwölf Jahren Spaß beim Lernen – und zwar sicher. Sie können altersgerechte Videos ansehen und eigene Beiträge hochladen, also zeigen, wie sie die Welt sehen und was ihnen wichtig ist. Zudem lernen sie, wie man kreativ und sicher mit dem Internet umgeht.
www.blinde-kuh.de
»Die Blinde Kuh« ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung, Vernetzung und Bereicherung der unabhängigen und nicht-kommerziellen Internet-Kultur der Onliner unter 14 Jahren. Die blinde-kuh.de wurde unter anderem mit dem Kinderkulturpreis 1998, dem Pädi 1999 und dem Grimme Online Award 2006 ausgezeichnet.
www.bibernetz.de
Das Netzwerk bibernetz.de bietet Erzieherinnen und Erziehern, Kitas und ihren Trägern, Grundschulen, Fachschulen und Hochschulen die Möglichkeit, sich zu informieren, miteinander in Kontakt zu treten und voneinander zu lernen. Medienkompetenz für die Frühpädagogik durch die Nutzung von Medien zu erwerben ist eine Möglichkeit in diesem kostenlosen Netzwerk.
www.fragfinn.de
fragFINN bietet einen geschützten Surfraum, der speziell für Kinder geschaffen wurde und in dem sie sich frei im Internet bewegen können, ohne auf für sie ungeeignete Inhalte zu stoßen. Der Surfraum basiert auf einer sogenannten Whitelist. Dies ist eine thematisch und zahlenmäßig umfangreiche Liste an kindgeeigneten und von Medienpädagogen redaktionell geprüften Internetseiten.
1 Six/Gimmler 2007, S. 191
2 Vgl. Feil 2001
3 Spitzer fordert unter anderem ein Computerverbot in Kindergärten. Vgl. Spitzer 2006a, S. 276
4 Neuß, N.: Medienpädagogische Entgegnungen – Eine Auseinandersetzung mit den populären Auffassungen von Prof. Spitzer aus Sicht der Elementarbildung. 2009, S. 15-35
5 Schleim: Train your brain. Telepolis
6 Ebd.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/13 lesen.