14. Februar
Wer in den Wald des Königs will, um die School for Life zu finden, biegt vom Highway, der von Chiang Mai nach Chiang Rai und weiter nach Mae Sai zur burmesischen Grenze führt, nach rechts ab. Nach einigen Hundert Metern kommt eine Kontrollstelle. Kontrolliert wird dort eigentlich niemand; es ist nur so, dass der Schlagbaum hochgezogen und ein Gruß ausgetauscht wird. Die schmale Straße führt an einem kleinen See vorbei, einem Wasserreservoir, dessen Spiegel je nach Jahreszeit steigt und fällt. Die Straße geht über einen unbefestigten Weg. Der Schlamm wird zur Regenzeit von den Rädern hochgeschleudert, während in der Trockenzeit je nach Tempo eine Staubfahne hinter dem Wagen hochsteigt.
Das beste Gefährt in dieser Gegend ist ein Pickup. Man sieht Pickups mit Menschentrauben vollgepackt, mit Kisten oder Ballen beladen, die meterhoch über die Fahrerkabine hinausragen, so dass ich in Kurven den Sicherheitsabstand vergrößere, weil mir bange ist, dass ein solches Wolkenkratzergefährt vor mir nicht nur wild schwankt, sondern auch umkippt. Noch abenteuerlicher beladen werden Motorbikes, leichte Motorräder, die jeden Autofahrer zwingen, immer wieder in die Seitenspiegel zu schauen: drei oder vier Personen auf einem Motorbike und noch ein Baby dazwischen geklemmt? »No problem!« Irgendein Warenturm hinter dem Fahrer, den er mit dem einen Arm festhält, während er mit dem anderen Arm am Lenker Kurs zu halten sucht? »Also no problem!«
Aber irgendwie gibt es doch ein Problem. Wenn zu den Grundthemen von Thai Popsongs »falling in love«, »broken heart«, »I’m open for someone« auch »accident by motorbike« gehört, dann ist damit Unglück im weiten wie im konkreten Sinn gemeint. Wir empfehlen Volontären, ihre Motorbikes defensiv zu fahren und auf das heiße Auspuffrohr zu achten, das schmerzhafte Verbrennungen am Unterschenkel verursachen kann.
Auf der kleinen Straße durch den Wald des Königs ist es ruhig. Das Tempo verlangsamt sich. Ein Schild weist zur »School for Life«. Nach drei Kilometern eine Linkskurve. Die Farm mit dem Namen »Suan Suoi Fha Sai« – »Lichter Himmel über schönem Garten« – taucht auf. Kinder kommen gerannt, lachen, grüßen mit einem Wai, wollen das Gepäck tragen, und ich finde: Es ist alles noch so wie zuvor. Und ich fühle mich zu Hause.
15. Februar
Gegen 4.30 Uhr der erste Hahnenschrei. Kurz darauf setzt das kollektive Geheul der Hunde ein, obwohl kein Vollmond zu sehen ist. Es bricht, als hätte der Blitz eingeschlagen, unvermittelt ab. Ein »Kläff« eines einzelnen Hundes hinterher zeigt keine Wirkung. Es ist wieder ruhig.
Um 6.00 Uhr wird die Tempelglocke geschlagen. Aufwachen! Der Morgen zieht herauf. Um 7.00 Uhr wird es lebhaft. Jedes Kind gehört zum »cleaning the campus«-Team. Die großen trocknen Blätter der Teakbäume werden aufgesammelt, die sich aufgehäufelt zur Pilzzucht verwenden lassen. Besen werden geschwungen, Stimmgewirr und Kindergesänge aus allen Ecken des Campus.
Gegen 9.00 Uhr kommt Kru Ya angerannt, die als stellvertretende Schulleiterin schon viele Jahre dabei ist. Sie reibt sich die Arme und schüttelt sich. Sie hat eine Gänsehaut. Ich frage sie, ob ihr kalt ist. Nein. Es sei ein Geist im Schulbüro. Vor dem Fenster sei das schemenhafte Gesicht eines unbekannten Kindes erschienen. Alle dort anwesenden Lehrer hätten den Raum fluchtartig verlassen. Und in der Tat, alle sind im Freien. Ein Laptop wird gebracht. Auf dem Bildschirm ein Foto: Man sieht von hinten den Kopf und die Schulter einer am Tisch sitzenden Lehrerin und draußen an der Scheibe jenes undeutlich erkennbare Gesicht.
Inzwischen hat sich der Vorfall bei den Kindern herumgesprochen. Eine dichte Traube umringt den Laptop, der auf einem Tisch vor dem Farmhaus steht. Ich spreche mit Kru Ya darüber, dass in zwei Tagen eine Zeremonie vor den vier Geisterhäuschen geplant sei, die sich über das Gelände verteilen. Kru Ya sagt, sie habe den Geist selbst gesehen, nicht nur auf dem Foto.
Ein paar Stunden später kommt Kru Tomsri (»Kru« bedeutet »Lehrerin«) und gesteht den Lehrern, dieser Geist sei aus pädagogischen Gründen erschienen. Sie habe ihn in ihrem Laptop erzeugt und das Foto aus dem Büro so ergänzt, dass ein Geist zu sehen war. Sie habe den Kindern erklärt, dass sie auf Geister treffen würden, wenn sie weiter spätabends herumliefen, statt ins Bett zu gehen. Jetzt müssten die Lehrer die Kinder nicht mehr einfangen; sie würden brav ins Bett gehen. Das sei doch gut so, oder?
Kru Tomsri ist anders als westliche Eltern, die möglicherweise unfolgsamen Kindern androhen, der Knecht Ruprecht würde sie holen, woran sie aber selbst nicht glauben. Nein, Kru Tomsri glaubt fest an Geister, und alle anderen Erwachsenen tun das auch, bis auf einen, der an nichts dergleichen glaubt und ohne Geister, Engel, Buddha und die Wiedergeburt auskommen will.
Der besondere Lesetipp
Jürgen Zimmer
Das halb beherrschte Chaos
Reportagen, Essays und Portraits aus 50 Jahren
»Man braucht das schärfste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewusstseins, um die nächste Nähe zu durchdringen.«
Ernst Bloch
Reportagen, Essays und Portraits aus 50 Jahren?
Sie bilden ein wunderbares Panoptikum von Heimat und weiter Welt, eine Art Biografie der Neugierde und des Vergnügens, mitzumischen. Nicht nur bei der Gestaltung pädagogischer Landschaften. Man kann das Buch von hinten nach vorn oder umgekehrt oder kreuz und quer lesen.
Jürgen Zimmer, Anstifter, Weltenwanderer und Querdenker, hat keine Lust, sich dauerhaft auf ein Spezialistendasein in der eigenen Zukunft einzulassen, er lässt sich nur ungern ins »Museum Schule« einsperren, und er hält den Campus einer Hochschule nicht für ausreichend geeignet, Studenten auf das halb beherrschte Chaos vorzubereiten. Ihm war und ist das überraschende Draußen lieber als das verwaltete Drinnen. Lassen Sie sich inspirieren auf den Streifzügen durch die Wirklichkeit. Und ermutigen von einem Visionär und Meister der Erzählkunst, Neues zu wagen und Grenzen zu überschreiten. Think globally, act locally.
ca. 600 Seiten, mit Fotos
verlag das netz, Weimar/Berlin 2012
ISBN 978-3-86892-045-1
ca. 25 Euro
Erscheint im Oktober 2012
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/12 lesen.