Eine Gruselgeschichte, aufgeschrieben und kommentiert von Gerlinde Lill.
Gestern sah ich einen Beitrag im NDR über Sprachstandsfeststellungen zwecks frühzeitiger Schulfähigkeitseinschätzung von Vierjährigen in Sachsen-Anhalt. Durchgeführt von einer Frau Dr. Sowieso. Zu sehen und zu hören gab es Gruseliges wie aus grauen pädagogischen Vorzeiten. Vorgeführt wurde ein vierjähriger Junge nebst Eltern in der Prüfsituation.
Vater und Mutter sitzen mit bangem Blick in Erwartung des Urteils (Ist unser Kind womöglich misslungen?) am Tisch. Der Junge, vor Schreck fast verstummt, muss irgendetwas nachsprechen. Dann wird er aufgefordert, in Unterhose auf einem Bein durch den Raum zu hüpfen. Ein bisschen übergewichtig ist er, oh ja! Strenger Blick zu den Eltern: Ernährungsberatung tut not.
Und all das vor laufender Kamera!
Von keinem Zweifel getrübt, selbstbewusst und im Vollbesitz ihrer Überlegenheit doziert Frau Dr. über Defizite der Kinder und wie sie die alle
aufspürt: »Ich stelle nicht nur Sprachstörungen fest, sondern auch andere Defizite, zum Beispiel ob das Kind nicht malen kann…«
Wow! Frau Dr. kommt mit ihren altbackenen Weisheiten noch mal ganz groß raus. Ein Fernsehauftritt! Das zeigt doch, wie immens wichtig so jemand wie sie und das ganze teure Programm für die Entwicklung unserer Kinder ist, oder?
Ach nee, da verwechsele ich etwas. Es geht ja gar nicht um die Entwicklung der Kinder, sondern darum, ihre Mängel festzustellen, um sie dann einer Sonderbehandlung zuzuführen.
Na, da können sich ja mal wieder ganz viele Spezialisten eine goldene Nase verdienen.
Kinder aus Kitas schneiden nach Einschätzung von Frau Dr. übrigens besser ab. Was mich hoffen lässt, dass in Sachsen-Anhaltinischen Kitas munter gehüft und gesprungen werden kann, mit den Kindern gesprochen wird und auch Malen hin und wieder möglich ist.
Kinder, die nur in Familien aufwachsen, weisen laut Frau Dr. hingegen reichlich Defizite auf: Zu dick, zu dumm, zu unbeweglich – und malen können die meisten auch nicht. Ganz zu schweigen von Lisplern und anderen Sprachgestörten. Na ja, zum Glück sind nicht alle »Familienkinder« so »defizitär«, aber wir können doch das schöne Vorurteil bestätigt sehen, dass Eltern die eigentlichen Versager sind.
Natürlich finde ich, dass es für Kinder ein Gewinn ist, nicht allein in der Familie, sondern zusätzlich noch an einem größeren und vielfältigeren Lebensort Erfahrungen sammeln zu können. Aber mir geht der Hut hoch bei pauschaler Schuldzuweisung an Eltern. Und erst recht, wenn ich diesen ganzen vorsintflutlichen Mist miterleben muss, ohne dagegen etwas Wirksames tun zu können. Sachsen-Anhalt ist ja nicht das einzige Bundesland, in dem der Messwahn fröhliche Urständ feiert.
Manchmal könnte ich verzweifeln. Gegen so viele Windmühlenflügel, wie sie in der pädagogischen Landschaft auftauchen, musste ja nicht mal Don Quichotte ankämpfen...
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06/09 lesen.