Institutionen und Organisationen bündeln Interessen, absichtsvoll und absichtlich, zwangsweise oder zwangsläufig, bei freiwilliger aktiver Teilhabe wie bei auferlegter passiver Teilnahme. Die Tatsache, dass Interessen gebündelt werden, heißt nicht, dass alle Interessen aller Beteiligten gleich sind oder auf das Gleiche gerichtet; in einer Institution mögen die Interessen von Beteiligten punktuell oder dauerhaft sogar gegeneinander gerichtet sein. Doch solche Anlässe bestätigen eher die Aussage, dass Institutionen Interessen bündeln, als dass sie sie widerlegen, wenn drei Differenzierungen bedacht werden.
Erstens: Natürlich bündeln nicht die Institutionen, sondern die Menschen, die diese Institutionen schaffen, unterhalten, darin aktiv sind.
Zweitens: Es erscheint nötig, zu ergänzen, dass die Bündelung sogar unterschiedlicher Interessen sowohl in den Institutionen und Organisationen als auch durch sie erfolgt. Die Art und Weise, wie Institutionen und Organisationen strukturiert, geregelt und organisiert sind, bestimmt, wie die Interessen gebündelt werden; sie bestimmt sogar, wie die Interessen artikuliert und umgesetzt werden können.
Drittens: Die Aussage »Institutionen und Organisationen bündeln Interessen durch Struktur und Organisation« schließt den Fall ein, dass Menschen – ihre Interessen – an die gegebenen Abläufe angepasst oder daran gewöhnt werden. Weil dies so ist, gilt auch der Umkehrschluss:
Die Organisation einer Organisation lässt erkennen, ob zielgemäß gearbeitet wird.
In Kurkliniken, Krankenhäusern oder Seniorenheimen steht das Wohlbefinden der Patienten in Leitbildern vorn. Diese drei Institutionen sozialer Arbeit werden deshalb kritisiert, wenn ihre Praxis nicht zu diesem Anspruch passt, wenn etwa das Frühstück um 8.00 Uhr erst knapp drei Stunden nach dem Wecken gebracht wird, wenn das Mittagessen um 11.15 Uhr folgt und das Abendessen um 17.00 Uhr bereitsteht. Dieser Ablauf deutet weniger auf das Wohlbefinden der Patienten, geschweige denn des einzelnen Patienten, als vielmehr auf den Vorrang reibungslosen Funktionierens, mitunter auch den Vorrang der Interessen des Personals vor denen der Patienten. Es kann ergänzt werden, dass es bei Anpassungsprozessen in der Regel Anpassungsgewinner und Anpassungsverlierer gibt.
Kurt Tucholsky erkannte schon 1918, dass Kinderbewahranstalten dem gleichen Muster folgen. Moderne Kindertageseinrichtungen, namentlich Krippen, sind nicht vor dem Widerspruch zwischen dem Organisieren eines reibungslosen Ablaufs und dem Organisieren für das Wohlbefinden der Kinder gefeit. Besonders auch bei der Aufgabe des Verpflegens (siehe unten) stoßen die Interessen der Beteiligten zu häufig gegeneinander. Um weder vorschnell Schelte zu verteilen noch widersprüchliches Handeln widerspruchslos hinzunehmen, muss man klären, worauf es ankommt. Noch einmal Tucholsky: »Dass überhaupt organisiert wird, flößt uns viel mehr Hochachtung ein als was und wie eigentlich organisiert werde.«2 Hier wird umgekehrt gewichtet. Und zu ergänzen sind Sinn und Zweck des Organisierens: Das sind der Auftrag und das Ziel institutioneller Erziehung für Kinder unter drei Jahren, die mit den entwicklungsbedingten Voraussetzungen die Basis des Organisierens bilden sollen.
Kindgerecht organisieren
Den Alltag in der Krippe kindgerecht organisieren, dieser Anspruch an die Qualität institutioneller Erziehung, Bildung und Betreuung wird kurz umrissen. Zunächst erscheinen Kindgerechtheit und Gemeinschaftserziehung vielleicht als nicht gegensätzlich. Kindertageseinrichtungen wurden doch auf die Belange von Kindern hin konzipiert. Aber einerseits wird hier nicht über Kindergerechtheit geschrieben, wird also nicht das allen Kindern Gemeinsame betont, sondern die Absicht verfolgt, die individuellen Voraussetzungen jedes Kindes so weit wie möglich zu berücksichtigen, obwohl Kindertageseinrichtungen auf Gemeinschafts- und Gruppenerziehung angelegt sind. Im Grunde sogar, weil es in dieser Konstruktion schwierig ist, die Individualität zu wahren und zugleich die Vorteile der Gemeinschaft zur Geltung zu bringen.
Die Balance muss aus zwei Gründen gelingen. Krippen standen zu lange im Ruf der Massenbetreuung, in der Kinder nicht genügend Förderung und persönliche Zuwendung bekämen. Zugleich aber wurde verlangt, dass schon im frühen Alter Sozialverhalten geübt oder Gemeinschaftsfähigkeit gefördert wird.3 Wenn Krippen jetzt neu den klaren Auftrag haben, individuell zu arbeiten, profitieren die Erzieherinnen (genauer: die Anerkennung ihres Berufsbildes). Auch die Kinder profitieren, denn der Ansatz an den individuellen Voraussetzungen des Kindes entspricht den pädagogisch-psychologischen Möglichkeiten aufs Beste. Das theoretische Konzept der Ko-Konstruktion oder das stärker praxisorientierte Konzept nach Emmi Pikler belegen die Wirksamkeit einer so verstandenen individuellen Förderung in einer Gemeinschaft und letztlich doch für sie – allerdings unter weitestgehendem Verzicht auf nicht kindgerechte, nicht altersgemäße Anpassungsforderungen.
Kindgerechtes Organisieren trachtet danach, Strukturen und Handlungen verlässlich am Bedarf jedes Kindes nach aktuellem Wohlbefinden und an seinen Entwicklungsinteressen auszurichten. Ein Ideal wird wahrscheinlich selten erreicht, zu viele Einflüsse wirken als Widerstände im Alltag, allen voran in den meisten Bundesländern ein Personalschlüssel, mit dem die geforderten Qualitätsstandards unmöglich zu erreichen sind. Um die zu knapp bemessene Erzieherinnen-Kind-Relation aufzufangen, werden Prinzipien der Rationalisierung angewandt. In der industriellen Produktion spart das Zeit und andere Ressourcen, in der Pädagogik erreicht man genau das Gegenteil. Ein Kind, das sein Wohlbefinden nicht zum entscheidenden Zeitpunkt in der ihm entsprechenden Weise herstellen kann, braucht deshalb vielfache Zuwendung, die sich in Personalanteile umrechnen lässt. Wenn die Erzieherinnen nicht genügend auf die »Altersgruppe U 3« vorbereitet werden, weil dem Land und den Trägern Quantität wichtiger ist als Qualität, wissen sie nicht, worauf es wirklich ankommt. Sie wissen nicht, was durch direktes pädagogisches Handeln und was besser durch Organisieren umzusetzen ist. Verstärkend wirkt in einer solchen Situation, dass Erzieherinnen, die auf den Kindergarten vorbereitet wurden, dessen Traditionen und Prinzipien auf die Krippe übertragen; die dabei gefundenen Verfahren lösen die Probleme selten.4
Nicht nur in Krankenhäusern, auch in Kindertageseinrichtungen, werden mitunter die gegensätzlichen Interessen von Beschäftigten und »Besuchern« gebündelt, indem sich die Schwächeren anpassen – müssen. Zum Beispiel kommt es auch in Kindertageseinrichtungen vor, dass das Mittagessen um 11.15 Uhr gereicht wird, weil es zu früh geliefert wird oder die Köchin nach dem Abwasch um 12.30 Uhr Feierabend hat.
Ein letzter Grund für das nicht kindgerechte Organisieren des Alltags liegt darin, dass, wie in allen sozialen Berufen, das Geistige Vorrang vor dem Materiellen hat, die guten Absichten durch Sachzwänge begrenzt werden und hehre Ziele von der herben Realität eingeschränkt werden.
Wenn nicht das Ideal, dann das Optimum. Die jeweils beste Möglichkeit des Organisierens ist unter allen gegebenen Rahmenbedingungen erreichbar, aber nicht selbstverständlich. Kindgerechtes Organisieren ist dazu ein guter Ansatz. Doch so viel ist sicher: Niemand darf sich mit einem einmal erreichten Stand zufrieden geben. Die Kinder ändern sich, daher muss von Zeit zu Zeit erneut organisiert werden. Dies ist eine anspruchsvolle Managementaufgabe: »Der Vorgang des Organisierens stellt also ein permanentes Problem dar, das Diagnosefähigkeiten, gestalterische Fantasie und das Vermögen, organisatorische Veränderungen durchzuführen, erfordert. Das ist, so gesehen, ein gewichtiges Element im Aufgabenbereich jeder Führungskraft.«5 Die Bereitstellung entsprechender Ressourcen fordert die organisatorischen Kompetenzen der Träger heraus.
Beim Organisieren geht es im Wesentlichen um die Koordination von Raum, Zeit, Arbeitskraft, Material und Abläufen nach bestimmten Regeln für eine bestimmte Zeitdauer. Wie diese Elemente und ihr Zusammenwirken den Erfolg der pädagogischen Arbeit unterstützen, wird im Beitrag von Gerlinde Lill mit vergleichbarem Anspruch wie hier bearbeitet. Wir weisen auf das »Drumherum« hin, weil die Förderung von »Individualität und Selbstständigkeit« keine rein pädagogische Aufgabe ist, die im direkten Kontakt zwischen Erzieherin und Kind bearbeitet wird. Das Organisieren soll zum Beispiel sichern, dass Kinder nicht im Fließbandtakt, sondern individuell gewickelt werden. Dazu gehört die Zeitdauer, die das Kind für seinen Rhythmus und zu aktiver Teilhabe braucht. So ist es bei der Pflege, doch auch beim Essen und bei den Ruhephasen. Für alle Tätigkeiten muss ein ruhiger, geschützter, vorbereiteter Raum zur Verfügung stehen. Für die Erzieherin bedeutet das kindgerechte Organisieren weniger Stress, trägt also zu ihrem Wohlbefinden und darüber hinaus zur Qualität des Kontaktes bei.
Zwei der im Folgenden zu erörternden Organisationselemente haben überragende Bedeutung für jede Krippe, weil sie den Rahmen bestimmen, in dem Alltag organisiert wird: die Öffnungszeiten und die Gruppenorganisation. Im Anschluss daran werden der Übergang aus der Familie in die Krippe, das Essen und die Pflegesituation näher betrachtet.
2 Tucholsky, K.: Der Apparat. 1918
3 Vgl. Lill, G.: Große Chancen für die Kleinen oder Förderung beginnt bei den Erwachsenen. In: Wehrmann, Ilse (Hrsg.): Starke Partner für frühe Bildung: Kinder brauchen gute Krippen. Ein Qualitätshandbuch für Planung, Aufbau und Betrieb. ISBN 978-3-86892-013-0. verlag das netz, 2009.
4 In der Tat könnte die Institution Kindergarten, wenn sie dem individualisierten Bildungsauftrag gerecht werden will, sehr viel von guten Krippen lernen; mehr jedenfalls als umgekehrt.
5 Steinmann/Schreyögg: Management. 4. Auflage, Wiesbaden 1997, S. 392
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04-05/09 lesen.