Eine fantastische, aber frei erfundene Reise vom Achim Kniefel in die deutsche Bildungslandschaft.
Berlin Mitte, eine enge Nebenstraße hinter dem Regierungsviertel. Ich besuche den Kindergarten »Cheeser« in einem auffallend schmucken Haus inmitten eines weitläufigen Gartens: Statt üblicher Plattenbautristesse hat das Gebäude eine Natursteinfassade, innen hochwertige Tapete, neue Echtholzmöbel, eine hochwertige Spielzeug- und Experimentierausstattung. Auch der Personalschlüssel verblüfft: Auf 30 Kinder kommen hier sechs junge, dynamische Erzieherinnen und Erzieher. Woher diese Traumbedingungen?
Greta Perster, die Leiterin mit blondem Pagenkopf und schwarzem Kostüm, berichtet, wie es zum Aufschwung bei den »Cheesern« kam: »Vor zehn Jahren waren wir ein Kindergarten wie alle anderen in Berlin: Mit gemütlich verrottenden Toiletten, zweirädrigen Holzautos und dem üblichen Spätdienst: eine Erzieherin und 85 Kinder. Damals hießen wir auch noch wie alle Kitas, irgendwas mit Erdzwergehöhle oder Wurzelmännchenclub e.V.
Dann kamen im Nachtrab des Regierungsumzugs nach Berlin auf einmal diese Anfragen: Ob wir mal mit einer Kindergruppe ins nahegelegene Bildungsministerium ausrücken können, die neue Ministerin will ihr Bildungsprogramm vorstellen. Oder zum Tagesmütter-Kongress in die Katholische Akademie... Ok, haben wir gesagt, wenn ihr uns dafür ein bisschen unter die Arme greift. Irgendwann kam dann unsere Elke auf die rettende Idee mit dem professionellen Bildungscasting. Seitdem geht‘s uns finanziell super!«
Was bedeutet Bildungscasting? Ich lasse mir die einfache, aber geniale Idee erklären: Die Kinder der »Cheeser« kann man gruppenweise mieten, als Statisten für Fotoshootings mit Politikern und anderen wichtigen Menschen. Schließlich braucht man für immer mehr Events, Tagungen oder bildungspolitische Erklärungen echte fröhliche Kinder, die eine nette Kulisse für die bedeutenden Erwachsenen und die Nachrichtensender bilden, die für die vielen Kurzberichte zu Krippenplätzen oder Kindergartenprogrammen qualitativ hochwertige Innenaufnahmen aus schönen Kitas mit heiteren Kindern brauchen. »Und die Kinder treffen täglich wichtige Entscheidungsträger an authentischen Locations, statt immer nur Freispiel machen zu müssen. Das überzeugt nicht zuletzt die Eltern«, weiß Greta Perster zu berichten.
Rodriguez Lehmann von der Fotoagentur »Interface« ist begeistert über die Zusammenarbeit mit den »Cheesers«. »War das früher kompliziert, gute Gruppenfotos mit Politikern und Kindergruppen zu bekommen! Erst mussten wir uns in den engen Zeitplan zwischen Morgenkreis und Mittagessen wursteln. Dann waren die Kinder auch noch scheiße drauf: Ich will nicht mit dem dicken Mann geknipst werden, wurde gebrüllt. Oder: Meine Eltern erlauben eh nicht, Bilder zu machen! Bei den Cheeser-Kids ist das ganz anders, die haben das Posing fürs Foto inzwischen fast noch besser drauf als die Politiker. Und die Fotorechte übertragen uns die Eltern schon bei der Aufnahme in den Kindergarten!«
Die Idee des professionellen Bildungs-Casting schlug ein wie eine Bombe: War anfangs höchstens monatlich mal ein Bezirksstadtrat für Bildung zum Vorlesen zu Gast, können die Cheeser-Kinder heute täglich unter mehreren Events auswählen. Da heißt es im Morgenkreis: »Wer kommt mit zum Kongress ›Mehr Bildung für Kinder der Zukunft in Deutschland‹ bei der SPD? Und wer mag zur CDU-Veranstaltung ›Auf dem Weg – Zukunft der Bildung für mehr Kinder in Deutschland?‹«
Was müssen die Kinder können, um auf solche Pressetermine vorbereitet zu sein? »Ohne einen dunkelhäutigen Jungen und ein türkisches Mädchen brauchen wir gar nicht zu kommen«, erklärt Erzieherin Elke die hohen Standards im Bildungscasting, »selbst beim Unternehmerverband oder der CSU.« Inzwischen gehört auch ein skandinavisch wirkender Junge zur Grundausstattung. »Schließlich suggerieren große, blonde Kinder aus dem PISA-Top-Land Schweden automatisch moderne Bildungsansätze«, klärt mich Elke auf. »Bunte Klamotten sind Pflichtprogramm, denn sie heben sich am besten vom Einheitsschwarz der Politikersakkos ab.«
Erstaunt verfolge ich während des Gesprächs, wie ernst die Bildungscastings im Kindergarten genommen werden: Gerade umringen die Kinder probehalber Kita-Zivi Martin, der, mit einem ausgebeulten Sakko und Tropfenformbrille verkleidet, den morgen erwarteten FDP-Vizegeneralsekretär mimt. Elke moderiert das Fotoshooting an: »Wie geht unser Cheeser-Schlachtruf?« »Cheeeeeese!« tönt es aus allen lächelnden Kindermündern. Und Hausmeister Erwin imitiert mit der defekten Neonröhre das Blitzlichtgewitter.
Stolz berichten auch die Kinder von ihren Podiums-Erfahrungen, denn »Wenn die Erwachsenen Tondresse machen, brauchen die immer tluge Tinderfragen«, weiß der fünfjährige Justin. »Wir fragen dann, warum mein Hamster sterben muss oder warum es Triege gibt. Dann kriegen die Erwachsenen ganz blanke Augen und sind so..., so...« »Gerührt!« ergänzt Elke. Und Rodriguez Lehmann fügt hinzu: »Die Kinder dürfen dabei auch ruhig stottern und sich verhaspeln. Besser, als wenn so eine Sechsjährige auf dem Podium neunmalklug politische Forderungen raushaut. Das geht ja gaaar nicht!«
Bildungscasting kommt an in der Berliner Republik, und die als Gegenleistung erbetenen Sach- und Geldspenden von Verbänden und Stiftungen fließen reichlich. Es läuft so gut, dass die »Cheeser« inzwischen über den kleinen Kreis der Einrichtung hinaus Kindergruppen fürs Bildungscasting bereitstellen. »Zwanzig experimentierende Grundschüler mit Migrationshintergrund für den Ganztagsschulkongress? Ok, ich melde mich gleich wieder«, flötet die Koordinatorin Gabi Schüssler gerade im Kitabüro in den Hörer. »Ich hab gerade ein Gespräch in der anderen Leitung... Hallo? Bezirksbürgermeister Erdmann braucht dringend fünf Blondschöpfe zum Drüberstreichen im Forum Steglitz? Kein Problem!«
»Gab es bei so viel Andrang schon Organisationsprobleme?« will ich wissen. Gabi Schüssler nickt errötend. »Neulich, als wir die Kindergruppe für das Shooting beim Eliteschulkongress mit der Truppe für die Rütlischule verwechselt haben, das war schon nicht ohne... Die Presseleute in Neukölln waren total irritiert, dass die angeblich gewaltbereiten Jugendlichen immer nur mit Vaters Ferrarischlüssel klimperten, anstatt ordentlich miteinander zu fighten. Und die Kids für das Rütli-shooting saßen dann völlig deplaziert mit ihren mühsam aufgemalten Tattoos und Butterfly-Messern zwischen den ganzen Privatschulheinis!«
Beeindruckt verlasse ich die Einrichtung. Im Eingangsbereich neben den Kinderklos steht ein Pulk von großen und kleinen Menschen. Staatsekretär Holzer von der Bremer Landesvertretung schält sich aus der Gruppe, reicht mir routiniert die rechte Hand und klopft mir gleichzeitig gewinnend mit der Linken auf die Schulter. Blitzlichter flackern. Der kleine Leon-Aaron zwinkert mir auffordernd zu: Tschiesss, alter Mann! Und ich lächle, bis die Muskeln schmerzen.